Mangelnder Selbstwert und Schuldenkrise

Der Mensch als Investitionsgegenstand

»Freiheit ist inzwischen nur noch das Recht, an den Gewinnen teilzuhaben, die

  durch die eigene dauerhafte Versklavung erzielt werden.« 

  David Graeber in Geteilte Hoffnung

Infragestellung des Selbstwerts durch das Erwerbsarbeitssystem

Unser sozialstaatlich organisiertes Gemeinwesen basiert auf dem Gedanken der Gleichheit. Laut Verfassung sind alle Menschen, unabhängig davon, wieviel sie leisten, gleich viel wert und haben dasselbe Recht auf Leben. Um diesem Grundsatz gerecht zu werden, leistet die Gemeinschaft denjenigen Hilfe, die, aus welchen Gründen auch immer, Schwierigkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Hilfe erfolgt jedoch nicht bedingungslos. Sie gleicht vielmehr einem Kredit, den der Staat, gleichsam als Investor, dem »Hilfe«-Empfänger zur Verfügung stellt. Der »Hilfe«-Empfänger zahlt ihn zurück, indem er Zeit und Energie auf eine Tätigkeit verwendet, aus der er, außer dass er dafür das Geld zum Leben bekommt, häufig wenig persönlichen Nutzen zieht. Als Mensch mit individuellen Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen spielt er in Bezug auf die Ausübung einer solchen Tätigkeit oftmals kaum eine Rolle.

Diese signifikant mangelnde persönliche Wertschätzung im Arbeits- und Berufsleben betrifft nicht nur Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger. Die wenigsten Menschen fühlen sich im Rahmen des bestehenden Erwerbsarbeitssystems von ihren beruflichen Tätigkeiten angemessen persönlich repräsentiert. Sie akzeptieren die soziale Eingebundenheit durch die Berufstätigkeit, die damit verbundene Anerkennung ihrer Leistungen sowie eine aus ihrer Sicht angemessene Bezahlung als Ausgleich für diesen Mangel. Persönliche Wertschätzung suchen dagegen die meisten, egal ob schlechter oder besser verdienend, im Privatleben. Dort scheinen in dieser Hinsicht im Vergleich zum Arbeits- und Berufsleben geradezu paradiesische Zustände zu herrschen:

Tatsächlich kommt in Mitteleuropa heute niemand mehr auf die Welt, um etwa – wie dies oftmals noch bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts der Fall war – seine Eltern bei der Arbeit zu unterstützen. Die meisten von uns sind Wunschkinder; und die relative materielle Sicherheit, in der unsere Eltern leben, ermöglicht es ihnen, uns als Kinder so zu lieben, wie wir sind. Das Vertrauen und die Liebe, die sie uns im Idealfall schenken, führen dazu, dass wir ein positives Selbstwertgefühl entwickeln, ein Gefühl, in unserer Individualität mit unseren Eigenheiten, Interessen, Fähigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen anerkannt und geschätzt zu werden.

Den Eltern wird die Liebe zu ihren Kindern im Erwerbsarbeitssystem jedoch noch immer nicht leicht gemacht. Ihre Elternschaft ist mit einem quasi unternehmerischen Risiko verbunden, das einen ständigen Leistungsdruck auf sie ausübt: zusätzlich zur Erziehungsverantwortung tragen die Eltern auch die finanzielle Verantwortung für ihre Kinder. Wollen sie diese nicht in Armut aufwachsen sehen, dürfen sie beispielsweise nicht arbeitslos werden oder zu wenig verdienen. Den mit der Elternschaft verbundenen Leistungsdruck verspüren am deutlichsten die Eltern, bei denen das Geld knapp ist. Wer sich seine Kinder »leisten« kann, spürt ihn weniger deutlich oder überhaupt nicht. Das heißt aber nicht, dass er ihn an seine Kinder nicht weiter gibt, im Gegenteil: Gerade wohlhabende Eltern neigen, unabhängig davon, ob sie ihren Wohlstand ererbt oder selbst erarbeitet haben, dazu, ihre Rolle als »Leistungsträger« besonders billigend in Kauf zu nehmen. Dies macht es wiederum ihren Kindern besonders schwer, dem Vorbild der Eltern nicht zu folgen. Auch ihre Kinder zeigen häufig schon früh und erst recht im späteren Leben die Bereitschaft, selbst ein Stück weit auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung zu verzichten und diese »Hypothek« wiederum an ihre Kinder weiter zu geben.

In einem intakten Elternhaus erleben wir alle, egal aus welcher sozialen Schicht wir kommen, dass die Eltern, um uns materiell und emotional zu versorgen, ein persönliches Opfer bringen. Unsere Existenz bedingt ihr Ungemach. Ohne dass sie oder wir das beabsichtigen, stehen wir dadurch ihnen gegenüber in einer Schuld und akzeptieren die Bedingungen, unter denen uns ihre Liebe und Zuneigung zuteil wird. Schon in jungen Jahren nehmen wir unsererseits einiges in Kauf, das dem ersten Eindruck, den wir als Kinder erhielten: bedingungslos da sein und uns frei entfalten zu dürfen, widerspricht und akzeptieren, dass unsere Eltern von uns verlangen, uns im Rahmen des bestehenden Schulsystems einer ständigen, intersubjektiv zu überprüfenden Bewertung zu unterziehen.

Infragestellung des Selbstwerts durch das Schulsystem

Die Kritik an der schulischen Leistungsbewertung reicht bereits zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Mit der Montessori-Pädagogik und in gemäßigter Form auch der Waldorfpädagogik wurden bis heute praktizierte Ansätze zu einer Reformpädagogik entwickelt, welche die freie Entfaltung des Individuums und die Freiheit des Lernens an oberste Stelle setzt und Abstand nimmt vom gängigen Notensystem, das die Leistung des Einzelnen vergleichend und damit angeblich relativ objektiv bemisst.

Dass es mit der Objektivität dieser Bewertungen nicht weit her ist und das gängige Leistungsbewertungssystem in erster Linie ein Instrument zur Leistungssteuerung bzw. zur Selektion ist, hat jüngst die Pädagogin und Grundschullehrerin Sabine Cerny erfolgreich aufgezeigt. In ihrem Buch Was wir unseren Kindern in der Schule antun ... und wie wir das ändern können stellt sie das schulische Leistungsbewertungssystem grundsätzlich in Frage, plädiert für die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems und für einen Unterricht, in dem alle Schüler inklusive Menschen mit Behinderungen mindestens bis zur 11. Klasse gemeinsam lernen.

Auch Experten anderer Fachrichtungen üben Grundsatzkritik am bestehenden Schulsystem. Der Neurobiologe Gerald Hüther und der Philosoph Richard David Precht fordern neue Formen des Lernens, die vor allem auf unmittelbar eigener Erfahrung basieren und nicht auf (mittelbarer) Unterrichtung durch Lehrer. Diese sollen, und zwar lediglich auf Wunsch der Schüler, diesen Hilfestellung leisten beim eigenständigen Erarbeiten von Aufgaben- und Problemstellungen in Form teamorientierter Projektarbeit und eigeninitiativem Lernen. In den letzten Jahren hat sich vor allem Falko Peschel in der praktischen Erprobung solcher freier Lernformen hervorgetan, mit höchst interessanten Studienergebnissen.

Im Prinzip praktizieren wir bis heute das Schulsystem des 19. Jahrhunderts. Das Potenzial persönlicher Entwicklung wird systematisch zerstört, und die individuellen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche der Kinder werden nicht berücksichtigt. Statt individueller Lernerfahrungen, die allein es ermöglichen, markante persönliche Fortschritte auf einem Wissens- und Arbeitsgebiet zu machen, ist noch immer vor allem die Fähigkeit zur kurzfristigen Memorierung von subjektiv bedeutungslosem Lernstoff gefragt. Das Lernen wird einem rigiden Zeitplan unterworfen. Nach der Motivation der Schüler, sich zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Stoff zu befassen, fragt niemand. Die Vielfalt der persönlichen Begabungen ist in diesem starren Rahmen überhaupt nur schwer zu eruieren, da man stets dazu neigt, sich auf das zu spezialisieren, in dem man »gut« ist. »Gut« ist aber zugleich nie das Ergebnis einer Selbstbewertung. Die übliche vergleichende Fremdbewertung übernimmt als uneingeschränkte Autorität eine Lehrerin oder ein Lehrer. Wie die Schüler sich selbst in ihrem Lern- und Arbeitsverhalten einschätzen, wie sie andere einschätzen, ob und welche Gründe es für das entsprechende Verhalten geben könnte, all diese für unser individuelles Verhalten so wichtigen Fragen, spielen in diesem Zusammenhang keinerlei Rolle. Entscheidend ist nur unser stets an dem anderer gemessener, unter willkürlichen Bedingungen erhobener persönlicher Leistungsstand.

Eine solche Lernatmosphäre begünstigt schon im Grundschulalter Gefühle von Konkurrenz und Neid, gepaart mit persönlichen Minderwertigkeitsgefühlen und dem Wunsch, den eigenen, teilweise in Frage gestellten Wert wieder stärker wahrzunehmen, indem man sich anderen überlegen fühlt. Gelingt dies nicht, entwickeln sich Gefühle der Frustration und der Aversion, die sich entweder gegen uns selbst oder andere richten, beispielsweise auf (ungeliebte) Schulfächer, Lehrer oder Mitschüler, vor allem gegen Objekte in dem uns innerlich relativ fern stehenden gesellschaftlich-öffentlichen Raum, während wir den privaten Bereich mit Familie und Freunden oft weiterhin als persönlichen Schutzraum erleben.

Diese Aufteilung in einen eher leistungsorientierten gesellschaftlichen und einen eher an uns persönlich und unseren Bedürfnissen orientierten familiären Bereich pflegen wir auch späterhin, obwohl sie bei näherem Hinsehen den realen Verhältnissen nicht entspricht und sich als weitgehend irrational erweist. Die Irrationalität dieser Wahrnehmung resultiert aus dem Abhängigkeitsverhältnis, in dem wir unseren Eltern gegenüber von Kindesbeinen an stehen und das wir als Gefühl der innigsten Verbundenheit erleben. Maßgeblich prägt dieses kindliche Erleben im weiteren Leben auch unser Ideal menschlicher Zuneigung.

Bedingungslos geben – ein unerreichtes Ideal

Im Grunde basiert unser (stark christlich-religiös geprägter) Begriff von Liebe und Zuneigung auf dem Ideal des Geschenks bzw. der bedingungslosen Gabe (vgl. Sedláček S. 176 sowie Graeber S. 299). In diesem Sinne gilt uns die Liebe unserer Eltern als vorbildlich: Sie versorgen uns aufopferungsvoll und lieben uns im Prinzip unabhängig von unserem Nutzen zu etwas oder für jemanden. Die Wertschätzung, die uns dadurch zuteil wird, empfinden wir als nicht quantifizierbar: Mit Geld oder Dingen ist sie nicht aufzuwiegen.

Dieses ideelle Wertempfinden behalten wir im späteren Leben in Bezug auf unsere privaten Beziehungen und den damit verbundenen Austausch bzw. die Gabe von Dingen durchaus bei. In seiner Studie Die Ökonomie von Gut und Böse bemerkt der Wirtschaftswissenschaftler Tomáš Sedláček:

»Wir haben offenbar das Gefühl, dass die besonders wertvollen Dinge umsonst gegeben werden sollten, dass man sie nicht kaufen können sollte. Gerade die wertvollsten Dinge im Leben dürfen nicht verkauft oder mit Geld aufgewogen werden. Irgendwo in unseren Inneren hegen wir die Vorstellung, dass eine exakte Reziprozität bei wichtigen Dingen oder bei den Menschen, die uns nahestehen, nicht wünschenswert ist.« (Sedláček S. 177)

Diesem wesentlich durch unsere mehr oder weniger erfüllte Beziehung zu unseren Eltern geprägten Ideal menschlichen Miteinanders steht die gesellschaftliche Realität, bei näherem Hinsehen sogar auf der Ebene ihrer kleinsten Organisationseinheit: der Familie, sichtlich entgegen. In Wirklichkeit erhalten wir nicht einmal das, was unsere Eltern uns geben, bedingungslos. Auch wenn wir in jungen Jahren noch nichts davon wissen und unsere Eltern es in Bezug auf uns persönlich nicht so wahrnehmen: Wir sind – auch durch sie – verpflichtet, es zurück zu geben, und im besten Fall (d.h. wenn wir uns als lohnende Investition erweisen) zu mehren.

Aus welchem anderen Grund sollte sonst unser ausschließlich aus Erwerbsarbeit finanziertes umlagebasiertes Rentensystem fortbestehen?

In diesem Rahmen geben wir unseren Eltern, wie das in früheren Zeiten der Fall war, das Geld zum Leben zwar nicht mehr direkt, doch noch immer basierend auf der Idee der Alterssicherung der Eltern durch die nächste Generation, sprich: ihre möglichst entsprechend zahlreich vorhandenen Kinder. Dabei sind diese heute deshalb zu wenige, um das System zu finanzieren, weil ihre Eltern ihren Wunsch, in größerer persönlicher Freiheit zu leben, ein Stück weit bereits verwirklicht und unter den gegebenen, diese Freiheit massiv bedrohenden Umständen entsprechend weniger Kinder zur Welt gebracht haben. Statt nun aber die politischen Rahmenbedingungen anzupassen und die Finanzierung des Rentensystems auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen, hält man daran fest und erzeugt so einen immer größeren Leistungsdruck auf die zahlenmäßig geringer ausfallenden nächsten Generationen.

Deren proklamierte Freiheit besteht schon heute vor allem darin, in Konkurrenz zu einer hohen Zahl vergleichbar Qualifizierter zwischen verschiedenen mehr und weniger einträglichen Berufen zu wählen, diese zum angeblichen Wohl der Allgemeinheit (u.a. ihrer eigenen Eltern) möglichst in Vollzeit auszuüben und in ihrer Freizeit Dinge zu erwerben, die ihre Wünsche nach echter Wertschätzung und Zufriedenheit erfüllen sollen, in Wirklichkeit aber die Erfüllung dieser Wünsche schlicht ersetzen. Sedláček bemerkt:

»Bei nicht handelsfähigen Dingen wie Freundschaft gibt es tatsächlich keine Möglichkeit des Kaufs oder Tauschs (einen echten Freund oder Seelenfrieden kann man sich nicht kaufen). Man kann aber Dinge kaufen, die damit im Zusammenhang zu stehen scheinen: Ersatz. Man kann seine Freunde zum Essen ins Restaurant einladen, sich dadurch aber keinesfalls wahre Freunde kaufen; man kann sich eine Hütte in den Bergen kaufen und versuchen, dort Seelenfrieden zu finden, doch Seelenfrieden an sich kann man nicht kaufen. Letztlich funktioniert auch die Werbung nach diesem Prinzip: Die Firmen zeigen uns etwas, was für Geld nicht zu haben ist (erholsamen Schlaf, eine glückliche Familie beim Frühstück oder Schönheit), und bieten uns einen handelsfähigen Ersatz an (ein teures Bett, irgendein Frühstücksmüsli, eine Hütte in den Bergen oder ein Shampoo). Obwohl wir wissen, dass das eine Illusion ist und dass in den Spots Schauspieler und Statisten agieren, fangen wir an, uns nach einem besseren Kissen (das uns erholsamen Schlaf bringen soll), neuen Joghurts und Müslis (der glücklichen Familie beim Frühstück) und Shampoos (auch wenn das Model in dem Spot diese Marke wahrscheinlich noch nie benutzt hat) zu sehnen.« (Sedláček S. 178)

Unser häufig in Ersatzhandlungen ausartendes Konsumverhalten zeigt die in vielerlei Hinsicht mangelnde Erfüllung unseres Wunsches nach echter gegenseitiger Wertschätzung und tiefer persönlicher Zufriedenheit. Wir sehnen uns danach, finden aber keinen Weg, diese Wertvorstellungen zu verwirklichen, da wir über keinen entsprechenden Wertmaßstab verfügen.

Wer von Kindesbeinen an als Kostenfaktor in einer betriebs- und volkswirtschaftlichen Rechnung betrachtet und wie ein Investitionsgegenstand behandelt wird, neigt nun einmal dazu, sowohl den eigenen als auch den Wert anderer stets als quantifizierbare, in materiellen Werten bzw. Geld messbare Größe wahrzunehmen. Seine Beziehungen nimmt er entsprechend als eine Art Geschäft bzw. Tauschhandel wahr; und zwar um so eher, je ferner ihm die Menschen persönlich stehen, als je abstrakter er die Beziehung zu ihnen erlebt. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Miteinanders erfolgt Geben so gut wie nie bedingungslos aus einem Akt der gegenseitigen Wertschätzung heraus – im Gegenteil: Gebe ich beispielsweise einem Arbeitslosen- oder Sozialhilfeempfänger etwas, ist sofort die Frage damit verbunden: Ist er wert, was ich ihm gebe? Und: Ist er in der Lage, es mir zu vergelten?

Die Staatsschuldenkrise als Vertrauenskrise

Misstrauen – die Grundlage moderner Kreditbeziehungen

Unser gesellschaftliches Miteinander ist zu einem großen Teil ein Gegeneinander und nachhaltig durch ein Misstrauen geprägt, das uns von Kindesbeinen an entgegen gebracht wird und das wir in der Folge wiederum anderen Menschen entgegen bringen. Weder die Gesellschaft noch die eigenen Eltern trauen uns eine freie persönliche Entwicklung und Bildung zu, sondern üben bereits über das bestehende leistungsorientierte Schul- und Bildungssystem Kontrolle und Druck auf uns aus.

Unter diesen Bedingungen können wir weder echtes Selbstvertrauen noch echtes Vertrauen in andere Menschen entwickeln und neigen dazu, Kontrolle und Druck auf uns wie auch auf andere auszuüben. Während wir Beziehungen zu Eltern, Freunden und Partnern in punkto Vertrauen tendenziell idealisieren, begegnen wir fremden Menschen mit Misstrauen und Vorurteilen. Auf diese »unheimlichen Fremden«, die nichts als ein Spiegelbild unseres mangelnden Selbstvertrauens sind, richtet sich auch unsere mit diesem Misstrauen unmittelbar verbundene Angst vor Übervorteilung. Diese zieht sich durch alle Schichten der Bevölkerung und ist weitgehend unabhängig von irgendeiner Form der Existenzangst: Auch Menschen, die weit davon entfernt sind, zu Sozialhilfeempfängern zu werden, fürchten erstaunlich schnell, jemand könnte den Wert ihrer Leistung und des damit verbundenen gesellschaftlichen und beruflichen Status in Frage stellen. Gemeinsam mit jenem bereits beschriebenen übertriebenen Streben nach Autonomie ist diese Angst der Ausdruck eines tief verankerten, defizitären Selbstwertgefühls, unter dem die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft leidet und das sie zu kompensieren versucht, indem sie den Wert ihrer Leistung auf Kosten des Werts der Leistung eines anderen unter Beweis stellt.

Dabei handelt es sich stets um einen (in Sachgütern bzw. Geld) messbaren Wert, der den nicht verspürten, weder quantifizier- noch bezahlbaren Wert eines selbst und anderer ersetzt und aufgrund seiner Quantifizierbarkeit und Vergleichbarkeit dem »Überlegenen« ein relativ hohes Maß an Selbstsicherheit und -vertrauen gewährleistet. In Wirklichkeit verfügt er darüber ebenso wenig wie der vermeintlich Unterlegene, doch hilft ihm dessen offenkundige Minderwertigkeit, die Illusion seines besonderen Werts aufrecht zu erhalten.

W€rt - piqs.de
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Da der Einzelne seinen Wert vor allem im Kontext der Arbeits- und Berufswelt als mess- und vergleichbar erfährt, kann er anderen gerade auf diesem gesellschaftlich hoch relevanten Gebiet nichts vom Produkt seiner vermeintlich so überlegenen Leistungsfähigkeit abgeben: Unter dem Gesichtspunkt quantifizierten Selbstwerts bedeutet jede Form von Geben eine Schmälerung des eigenen Werts. Um das positive Selbstwertgefühl zu erhalten, gibt man also nur unter der Bedingung, zurück zu erhalten, was im Grunde ausschließlich einem selbst zusteht und was man dem anderen – großzügigerweise, wie es scheint – eine Zeit lang überlässt. Auf nationalstaatlicher Ebene zeigt sich diese Mentalität u.a. im Sozialsystem, in dem »Hilfe« als eine Art Kredit »geleistet« wird.

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Das Wort »Kredit« stammt vom lateinischen »credere« (= glauben, vertrauen) und bezeichnet das Vertrauen, dass einer darin hat, dass er das, was er jemandem gegeben hat, auf Euro und Cent wieder zurück bekommt. Diesen uns heute so vertrauten rigiden Charakter hatte die Kreditbeziehung allerdings nicht immer, wie der Anthropologe und Occupy-Aktivist David Graeber in seiner beeindruckenden Studie Schulden. Die ersten 5000 Jahre anschaulich zeigt. Neueren Forschungen zufolge basierten sowohl antike als auch mittelalterliche Volkswirtschaften zum größten Teil auf flexiblen Kreditbeziehungen, die »in der gemeinsamen Nutzung der Allmende, in der täglichen Zusammenarbeit und in der nachbarschaftlichen Solidarität« wurzelten und zur Folge hatten, dass beinahe jede Familie im Dorf »beides zugleich: Gläubiger und Schuldner« war (vgl. Graeber S. 344). Bargeld war so gut wie nicht gebräuchlich, stattdessen ließ man gegenseitig anschreiben.

Akribisch zeichnet Graeber nach, wie sich diese eher vertrauensorientierte Auffassung von »Kredit« unter dem Einfluss struktureller Gewalt und dadurch anonymisierter zwischenmenschlicher Beziehungen im Laufe der Jahrhunderte wandelte: »Für diejenigen, die wir als Freunde oder als Nächste betrachten, gelten stets besondere Maßstäbe. Die Unausweichlichkeit des verzinsten Kredits und das abwechselnd hemmungslose und berechnende Verhalten derer, die zu Sklaven ihrer Schulden geworden sind, sehen wir vor allem bei Vereinbarungen zwischen Fremden« (Graeber S. 343).

Für unsere heutige Auffassung der Kreditbeziehung lässt sich feststellen, dass wir es mit einer Form des Vertrauens im Rahmen einer Beziehung zu tun haben, die vorwiegend auf Misstrauen basiert. Denn die moderne Kreditbeziehung setzt nicht nur jene von Sedláček erwähnte »exakte Reziprozität« von Geben und Nehmen voraus; um sie zu gewährleisten, verlangt sie dem Kreditnehmer auch geldwerte Sicherheiten und in der Regel zusätzliche Zinszahlungen ab. In dieser Kreditbeziehung ist das herrschende gesellschaftliche Misstrauen gleichsam institutionalisiert. Es prägt zum Teil unsere privatesten Beziehungen und kommt entsprechend unserer Neigung, weniger private Beziehungen abzuwerten, immer unverhohlener zum Ausdruck, je ferner uns die Menschen in diesen Beziehungen innerlich stehen.

Die Kreditbeziehung als Instrument zur Einrichtung von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen

So wird auf nationaler Ebene »Hilfe« im Sinne der christlichen Soziallehre noch als Akt der Solidarität deklariert, obwohl sie erkennbar Züge einer Dienstleistung aufweist und somit eher einer Handelsbeziehung bzw. einem Tauschgeschäft gleicht. Auf internationaler Ebene, im Rahmen der sog. europäischen Staatsschuldenkrise, werden die Zahlungen, die die wirtschaftlich leistungsfähigeren Gläubiger-Staaten Nordeuropas den von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Schuldner-Staaten Südeuropas leisten, zwar ebenfalls oft als gemeinschaftlich getragene »Hilfen« bezeichnet, diese erfolgen jedoch klar auf Kreditbasis.

Auch wenn, wie Experten prophezeien, am Ende Schuldenerlasse und/oder weitere »Hilfen« werden folgen müssen, um den Fortbestand der Europäischen Union in ihrer jetzigen Form zu garantieren, vertritt z.B. die deutsche Bundesregierung ganz im Sinne ihrer Wählerschaft offiziell stets die Meinung, dass eine Rückzahlung der »Hilfen« erforderlich sei. Ebenso weiß sie den Großteil der Bevölkerung hinter sich, wenn sie darauf besteht, dass die Troika die Haushalte der Schuldner-Staaten mit Spardiktaten überzieht und sog. Arbeitsmarktreformen fordert, die in nichts anderem bestehen als Massenentlassungen, Lohnsenkungen bei gleichzeitigen Steuererhöhungen sowie der Privatisierung staatseigener Betriebe wie Elektrizitätswerken, Post, Bahn und Rundfunk.

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In vollkommener Missachtung der Interessen der jeweiligen Landesbevölkerung greift man auf die Sicherheiten der Schuldner-Staaten zu und überlässt sie den privatwirtschaftlichen Gläubigern, bei denen man überdies selbst in der Kreide steht. Wer diese Gläubiger im Einzelnen sind, gibt das Bankgeheimnis wohlweislich nicht preis, doch ist bekannt, dass ein Großteil davon mächtige Investmentfonds, Banken und Versicherungskonzerne sind sowie Wirtschaftsunternehmen und wohlhabende Privatanleger. Im Zuge der Privatisierung kaufen diese sich günstig in die staatseigenen Betriebe ein und machen damit selbst bei einbrechenden Steuereinnahmen im jeweiligen Land Gewinne.

Die Gläubiger-Staaten, die selbst von den Krediten der privatwirtschaftlichen Gläubiger abhängig sind, betreiben ihre Politik ganz in deren Sinne und nötigen wiederum die von ihren Krediten abhängigen Staaten auf jedem erdenklichen Weg, ihre Schulden zu begleichen. Dieses Verhalten mutet unter dem Gesichtspunkt, dass auch sie selbst bei den privatwirtschaftlichen Gläubigern hoch verschuldet sind, auf den ersten Blick absurd an: Die Staaten der Europäischen Union könnten sich ja auch solidarisieren und darauf bestehen, dass ihnen die privaten Gläubiger die Schulden erlassen. Zumal dieselben Kreditinstitute und Versicherungskonzerne, die heute die Staaten der Europäischen Union vor sich her treiben, die Finanzkrise mit ihrem fahrlässigen Verhalten veranlasst haben.

Doch erst haben die Staaten der Europäischen Union die mit den Wirtschaftskonzernen eng verflochtenen Kreditinstitute mit Steuergeldern »gerettet«, mit dem Hinweis, sie seien systemrelevant; und dann entlastete man die privatwirtschaftlichen Gläubiger auch noch durch den massenhaften Aufkauf im Wert verfallener Staatsanleihen durch die EZB, wodurch die Gemeinschaft jetzt nicht mehr nur bei den privatwirtschaftlichen Gläubigern, sondern in erheblichem Maße auch untereinander verschuldet ist. Obendrein erzeugt diese Maßnahme, kombiniert mit der derzeitigen Niedrigzinspolitik der EZB eine schleichende Inflation, mit der die Schulden zu Lasten des weniger wohlhabenden Teils der Bevölkerung verringert werden.

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Was ist die Ursache für diese offenkundig widersinnige und selbstschädigende Verhaltensweise der Staaten Europas und ihrer Bevölkerungen?

Ist es tatsächlich die Systemrelevanz der einschlägigen Institute, die im Fall verweigerter Rettungen zwangsläufig zahlreiche Staatsbankrotte nach sich gezogen hätte? Oder handelt es sich um geschickte Schachzüge der übermächtigen Banken- und Finanzlobby und ihren schädlichen Einfluss auf die Regierungen und die Spitzen europäischer Institutionen wie der EZB?

Auf welche Erklärung man sich auch festlegen mag, dahinter steht die Verlustangst jedes Einzelnen. Die tiefere Ursache für das Verhalten der europäischen Staaten und ihrer Bevölkerungen in der Krise sind die Ängste und das Misstrauen, das die Mehrheit der Menschen gegenüber der Gemeinschaft hegt. Offenbar geht niemand davon aus, von anderen (außer vielleicht der eigenen Familie) so wertgeschätzt zu werden, dass er von ihnen im Notfall und/oder im Alter bedingungslos genug zu einem auskömmlichen Leben erhält; und leider bestätigt der politische Umgang mit einkommensschwachen Rentnern, Arbeits- und Sozialhilfeempfängern dieses Bild ja auch, und zwar in nahezu allen Staaten der Europäischen Union, ganz besonders aber in den Schuldner-Staaten.

Spiegelnder Porsche - piqs.de
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Bei der sog. Staatsschuldenkrise handelt es sich in Wirklichkeit um eine gesellschaftliche Vertrauenskrise, die inzwischen nicht mehr nur die einzelnen Nationalstaaten betrifft, sondern aufgrund der fortgeschrittenen politischen und sozialen Verflechtung der Staaten auf europäischer Ebene deutlich zum Vorschein kommt:

Die Bürger Europas haben Vertrauen in Währungen, Geld, materielle Güter, die man damit erwerben kann, und in die Besitzer und Sachwalter von Kapitalvermögen, aber keines in sich selbst und ihre Mitbürger, geschweige denn in die Bürger ihrer Nachbarländer. Nicht der Einzelne und sein Potenzial, auf der Basis frei entwickelter persönlicher Fähigkeiten gemeinsam mit anderen Erträge zu erzielen, die das Auskommen aller sichern, gelten als systemrelevant, sondern Banken und Großkonzerne, die von einer Handvoll Unternehmer und Manager geleitet werden, als besonders leistungsfähig gelten und mit dem Geld ihrer Kunden Investitionen tätigen, die etwaige politische, soziale und ökologische Folgeschäden vollkommen außer Acht lassen. Diese Firmen und Institute gelten als so relevant, dass man sie 2008 angeblich nicht Pleite gehen lassen konnte, ohne dass die Menschen, mit deren An- und Einlagen diese Investitionen getätigt werden, ihr Geld verloren hätten.

Ausgleich des mangelnden Selbstwerts durch die Beschwörung nationaler Größe und Autonomie

In gewisser Hinsicht ist die Behauptung, diese Finanzinstitute seien systemrelevant, sogar richtig. Denn mit ihren Aktivitäten erhalten sie die Ängste und das Misstrauen, auf denen das derzeitige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem basiert, nicht nur aufrecht, sondern vertiefen sie sogar noch. Vier Jahre nach ihrer Rettung durch die Staaten der Europäischen Union schlagen aus der Verlustangst der Bürger vor allem die geretteten Banken und Versicherungskonzerne (bzw. deren Kapitaleigner und Investoren) Kapital. Die Bürger haben sich in der Mehrzahl durch die »Rettung« – absurderweise zu einem großen Teil bei eben den geretteten Instituten – so hoch verschuldet, dass zumindest die permanent von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Südstaaten Kredite nur noch zu horrenden Zinsen aufnehmen können, was wiederum längerfristig eine enorme Belastung für die gesamte Gemeinschaft darstellt.

€uro & Cent - piqs.de
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Jeder Cent, den die Bürger Europas den privatwirtschaftlichen Gläubigern (etwa in Form von Vorsorge leistenden Kapitalanlagen) für Investitionen zur Verfügung stellen, verleiht diesen die Macht, die Staaten der Europäischen Union gegeneinander auszuspielen: Obwohl alle hoch verschuldet und somit eigentlich nicht mehr kredit- bzw. »vertrauens«-würdig sind, genießen einige von ihnen (wie etwa die Bundesrepublik Deutschland) noch das »Vertrauen« der Märkte bzw. ihrer mächtigsten Teilnehmer. Im Gegensatz zu Schuldner-Staaten wie Griechenland werden sie für leistungsfähig genug gehalten, dieses »Vertrauen« nicht zu enttäuschen und eines Tages ihre Schulden vollständig begleichen zu können. Wie kein anderer Staat Europas ist Deutschland, gleich einem Musterschüler im europäischen Gymnasium, darum bemüht, dieses »Vertrauen« nicht zu verlieren und sich auf Kosten anderer als ökonomisch besonders leistungsfähig zu profilieren.

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An diese Leistungsfähigkeit (im materiell-quantifizierbaren Sinne) ist nicht nur der Selbstwert des Einzelnen, sondern auch der des Kollektivs gekoppelt; und anhand dieses Maßstabs bemessen sowohl der Einzelne als auch das Kollektiv stets den Wert der anderen. Soziokulturelle Eigenheiten, Werte und Traditionen, die maßgeblich das Miteinander und das Werden der Gemeinschaft bereichern könnten, spielen in diesem würdelosen Wettbewerb um wirtschaftliche Bestnoten keine Rolle. Griechenland, die einstige Wiege europäischer Kultur und Demokratie, ist heute – Ironie des Schicksals – Schlusslicht im europäischen »Gymnasion«. Sein Wert und der all seiner Bürger wird ausschließlich am Bruttosozialprodukt gemessen, am Schuldenstand und an den Anstrengungen der Regierung, die ausstehenden Zahlungen bei den Bürgern einzutreiben. Dies führt am Ende nicht nur zu einer weiteren Zerrüttung des Vertrauens der europäischen Staaten untereinander und der nachbarschaftlichen Beziehungen. Es führt auch dazu, dass rechte Parteien und Bewegungen erstarken, die den kollektiv empfindlich verspürten Mangel an Selbstwert durch die Beschwörung nationaler Größe kompensieren.

Die ersten Anzeichen sehen wir bereits in Griechenland und Frankreich. Eine neue national wie auch international agierende Rechte entsteht, die in den meisten Fällen mit einer Infragestellung des europäischen Gemeinschaftsgedankens verbunden ist und selbst den »Musterschülern« Europas zunehmend zu schaffen macht. Denn alle Länder sind ja hoch verschuldet, von Arbeitslosigkeit und/oder voranschreitender Verarmung der Bevölkerung geprägt, die den Boden für eine steigende soziale Unzufriedenheit und eine Radikalisierung der Politik am linken und rechten Rand des Parteienspektrums bereiten. Auch in der Weimarer Republik war schon Jahre vor dem kometenhaften Aufstieg Adolf Hitlers jener signifikante Zerfall der politischen Mitte zu beobachten, den wir mehr und weniger offensichtlich in allen europäischen Staaten beobachten können.

Abwärts - piqs.de
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Auch wenn Deutschland und die anderen, wirtschaftlich potenteren Gläubiger-Staaten sich zur Zeit noch in der Rolle des großzügig Hilfe Leistenden und für die EU Eintretenden gefallen, sie können sie nur spielen, so lange sie nicht allzu sichtbar in die gesamteuropäische Abwärtsspirale hineingerissen werden. Um das eigene positive Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten, wird in Zukunft eine verstärkte Abgrenzung von den Staaten nötig werden, denen man sich anzugleichen droht: Zunehmend werden die Menschen in den noch wohlhabenderen Nordstaaten der Europäischen Union den Sinn der Währungsunion in Zweifel ziehen und Stimmung machen gegen die Schuldnerstaaten wie auch ihre Bürger, z.B. in Form der deutschen Diskussion um sog. Armutsmigranten aus Ländern wie Bulgarien und Rumänien. Die Bevölkerung in den Schuldner-Staaten aber sucht sich, um einen Rest an Selbstachtung zu wahren, andere Sündenböcke: Flüchtlinge, die, Asyl suchend, nach Europa kommen und in Konkurrenz zu den Heeren Arbeitsloser im eigenen Land zu treten drohen – Menschen, die – wie es scheint – deutlich viel weniger wert sind als man selbst, und doch nur ein Spiegel der eigenen, mühsam abgewehrten Erbärmlichkeit.

Schuldknechtschaft als gewählte Lebensform

Wie der mangelnde Selbstwert die Wahrnehmung der staatlichen Überschuldung beeinflusst

Wäre das mangelnde Selbstvertrauen bzw. Selbstwertgefühl, unter dem ausnahmslos alle, die Bevölkerungen der »starken« wie die der »schwachen« Staaten, leiden, keine Realität, so würde man sich der Macht der privatwirtschaftlichen Gläubiger in Europa nicht so widerspruchslos beugen. Als starke Gemeinschaft mit einem gesunden Selbstvertrauen würde man, nach allem was sich im Jahr 2008 ereignet hat, nicht nur die Ansprüche der Gläubiger auf Rückzahlung der Schulden in Frage stellen, sondern endlich einmal generell hinterfragen, wie es bereits längst vor der Finanzkrise überhaupt zu dieser Situation der Überschuldung kommen konnte.

Nach Meinung des Großteils der Bevölkerung, die darin von den Regierungen mit Nachdruck unterstützt wird, kommt die Staatsverschuldung daher, dass man über seine Verhältnisse gelebt hat und nun auf vieles verzichten muss, das man sich zuvor auf Kredit geleistet hat. Diese Meinung offenbart das kollektive Minderwertigkeits- bzw. Schuldgefühl, mit dem die Menschen der aktuellen Situation gegenüber stehen: Offensichtlich war man die Investition, die Leistungsfähigere in einen tätigten, nicht wert; um so verpflichteter fühlt man sich den Gläubigern und zeigt sich bereit, die Schulden zurück zu zahlen, wie auch die dafür angefallenen und anfallenden Zinsen und Zinseszinsen, mit denen sich die potenten Kreditgeber – offenbar in skeptischer Vorausnahme eines Zahlungsausfalls – wohlweislich abgesichert haben.

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Die Zinsnahme, die wir als Teil eines jeden Kreditvertrags zu akzeptieren pflegen, erweist sich unter diesem Gesichtspunkt als scheinbar gerechtfertigter Ausdruck des Misstrauens in die wirtschaftliche Aktivität des Kreditnehmers. In unserem Wirtschafts- und Finanzsystem kommt dieses Misstrauen allerdings einer sich selbst erfüllenden negativen Prophezeiung gleich: Die Last der Schulden wird durch den Zinses-Zins-Effekt für die Kreditnehmer innerhalb von wenigen Jahrzehnten so hoch, dass – wie wir das derzeit erleben – eine allgemeine Zahlungsunfähigkeit droht.

In seinem Buch »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« weist David Graeber darauf hin, dass diese Situation seit Menschengedenken regelmäßig eingetreten ist und von Seiten der Mächtigen ebenso regelmäßig Schuldenerlasse vorgenommen werden mussten, weil die durch die Schuldenkrisen immer rasanter voranschreitende Ungleichverteilung von Vermögen und die damit verbundene Schuldknechtschaft großer Bevölkerungsteile das sozio-ökonomische Fundament der Gesellschaft zu sprengen drohten. In dem Essay Geteilte Hoffnung bemerkt Graeber mit Bezug auf die Situation der Finanzkrise im Jahr 2008:

»Seit mindestens fünftausend Jahren war das zentrale Anliegen von Volksbewegungen in der Regel ein Streit um Schulden – dies galt bereits lange bevor der Kapitalismus überhaupt existierte. Der Grund dafür ist folgender: Schulden sind das wirkungsvollste Instrument, das je geschaffen wurde, um diejenigen menschlichen Beziehungen, die im Grund auf Gewalt und brutaler Ungleichheit beruhen, in den Augen aller Betroffenen moralisch und richtig erscheinen zu lassen. Wenn dieser Trick allerdings nicht mehr funktioniert, fliegt alles in die Luft. Genau dies geschieht aktuell. Schulden sind erwiesenermaßen die größte Schwachstelle innerhalb des Systems; der Punkt, an dem alles in dramatischer Weise außer Kontrolle gerät.« (Graeber S. 70)

Überschuldung – zwingende Folge des bestehenden Geldsystems

Für Geldsystemkritiker wie Margrit Kennedy†, Katie Teague, Helmut Creutz, Bernd Senf, Franz Hörmann, Dirk Müller u.v.a.m. liegt die Ursache der horrenden Staatsverschuldungen mitnichten in dem berüchtigten Leben der Gemeinschaft über ihre Verhältnisse, sondern (rein finanztechnisch gesehen) in unserem zinsbasierten Schuldgeldsystem, in dem exponentiell wachsende Schulden und Gewinne strukturell angelegt sind. Geldsystemkritikern ist überdies vollkommen klar, dass auch die »Musterschüler des europäischen Gymnasiums« ihre Schulden niemals werden zurückbezahlen können. Dennoch suggerieren die privatwirtschaftlichen Gläubiger wie auch die lobbyistisch mit ihnen verbandelten Staatsregierungen der Bevölkerung dies. Aus ihrer Sicht haben sie allen Anlass, den zwingend notwendigen Schuldenerlass so lange wie möglich hinaus zu zögern: Denn die bestehenden Schulden sind ein permanentes hilfreiches Mittel, um aus der zunehmend unter wirtschaftlichem und sozialen Druck stehenden Bevölkerung noch mehr Geld und Sachgüter heraus zu pressen.

Da ich mich auf dieser Seite vor allem mit den Gründen befasse, die aus der Sicht des Einzelnen ein derart unfaires Geldsystem gerecht und sinnvoll erscheinen lassen, verweise ich hier für eine allgemein verständliche einführende Darstellung der Geldsystemkritik auf die instruktiven Schriften von Margrit Kennedy und Sebastian Kunze. 2013 ist ein neuer Film von Katie Teague zum Thema erschienen, den Oliver Weis sachverständig untertitelt hat. Auch Christopher Klein und Jens Helbig tragen seit einigen Jahren mit ihrer Seite geldsystem-verstehen.de zur Aufklärung über das Thema bei. Andere, allesamt gratis erhältliche Schriften findet Ihr im umfangreichen Archiv geldreform.de und an zahlreichen anderen Orten im Netz.

Eine interessante Einführung ins Thema bietet auch Matthias Kleespies:

Kleespies, Geldsystem
Geldsystem.pdf
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Darin bezieht Kleespies sich z.T. auch kritisch auf einschlägige Ansätze der Geldsystemkritik (vgl. S. 26) und zeigt Wege aus der im System angelegten Schuldenfalle sowie zu mehr Fairness und kooperativem Miteinander im Wirtschaftsleben. Auch die zentralen Mythen, auf denen das derzeitige Geldsystem aufbaut, nimmt Kleespies kritisch ins Visier: Sei es die Behauptung, wie auch immer investiertes Geld »arbeite« und vermehre sich dadurch von selbst, sei es die Behauptung, die Zinsnahme stelle eine angemessene Leihgebühr für die Überlassung von Kapital an den Kreditnehmer dar. Kleespies zeigt nachvollziehbar und anschaulich (vgl. S. 12 f.) und ist sich darin mit den oben genannten Geldsystemkritikern einig, dass jeder Zinsgewinn (sofern er durch entsprechend hohe Renditen überhaupt gewährleistet ist) mit entsprechend hohen Verlusten anderer Wirtschaftsteilnehmer einhergeht. Da diese Verluste, beispielsweise von Kreditnehmern in der Wirtschaft, über die Preise an ihre Kunden weitergegeben werden, mithin in den Produktpreisen versteckt sind (vgl. Kleespies S. 42 f.), bemerkt man den durch Zinsgewinne verursachten volkswirtschaftlichen Schaden in der Regel lediglich an den dauernd steigenden Preisen. In Deutschland liegt der dem Zins geschuldete Preisanstieg im Schnitt bei bereits 30 bis 40 % des Warenwertes (vgl. Kleespies S. 48 f.). Wenn man bedenkt, dass man als Anleger von Tagegeld mit einem Zinssatz von 3 % abgespeist wird, sieht man, wie hoch das Maß der Selbsttäuschung ist, der man in dem Glauben aufsitzt, mit solchen Anlageformen gute Geschäfte zu machen.

Wie auf dem »Arbeitsmarkt« der in der Hierarchie des Einkommens höher Stehende von den schlechter bezahlten Dienstleistungen der unter ihm Stehenden profitiert, so gilt das auch im Rahmen unseres derzeitigen Geldsystems. Der Gewinn des einen findet stets zu Lasten eines anderen statt. Tatsächlich ist der wirtschaftliche Prozess in diesem Kontext kein gewinnbringender für alle, wie liberalistische Propaganda dies immer wieder suggeriert, sondern es profitieren nur relativ wenige – und nimmt man als Maßstab ein leistungsloses Einkommen sogar nur sehr wenige (vgl. Kleespies S. 48 f.). Die gesamte Entwicklung führt mit der Zeit zu jener »Umverteilung von ›fleißig nach reich‹« (Kleespies S. 48) und zur kontinuierlichen Konzentration des Vermögens in der Hand einiger weniger, die sich heute sichtbar in allen Statistiken zur Vermögensverteilung in Deutschland und anderen westlichen Industrienationen zeigt.

Wie regelmäßige Güterentwertung die materielle Orientiertheit unseres Wertempfindens unterbindet

Das bestehende zinsbasierte Schuldgeldsystem ist weder der Wirtschaft noch der Gesellschaft zuträglich. Nicht umsonst werden Zinsen vom Christentum und vom Islam – und damit von zwei der drei in abrahamitscher Tradition stehenden Religionen – grundsätzlich abgelehnt. Im Judentum ist die Zinsnahme, zumindest gegenüber Nicht-Juden, zwar erlaubt. Doch enthält die Tora noch andere »antimonopolistische und soziale Maßnahmen« (vgl. Sedláček S. 104), unter anderen die sog. Jubel- oder Erlassjahre, um die soziale Gerechtigkeit wieder herzustellen. In seiner Studie Die Ökonomie von Gut und Böse fasst Sedláček das direkt von Gott gegebene Gesetz aus dem 3. Buch Mose zusammen:

»Alle 49 Jahre gibt es ein Jahr der Vergebung, in dem das Land seinen ursprünglichen Besitzern zurückgegeben wird, gemäß den früheren Plänen für die Aufteilung des Landes unter den Stämmen, die nach Kanaan kamen. In den Jubeljahren sollten die Schulden gestrichen werden, und die Israeliten, die aufgrund ihrer Verschuldung in Sklaverei geraten waren, sollten freigelassen werden.« (Sedláček S. 104)

Irgendwo - piqs.de
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Man konnte also auf einem Stück Land eine Zeit lang Mehrwert schöpfen und dabei zahlungsunfähige Schuldner bis zu 49 Jahre lang zur Begleichung ihrer Schulden als Arbeitskraft heranziehen. Doch niemand musste diesen Schuldendienst sein Leben lang tun. Je näher dem Erlassjahr er geboren war, von desto kürzerer Dauer war die Schuld, in der er dem Gläubiger gegenüber stand. Im 3. Buch Mose verkündet Gott, der Allmächtige: »Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir.« (Sedláček S. 106) Das Land gehört Gott oder man könnte naturrechtlich begründet eben auch sagen: Das Land gehört niemandem oder allen und ist deshalb nicht zu verkaufen.

Die regelmäßige Entwertung des materiellen Guts Boden hatte denselben Sinn wie das bereits in der frühen Neuzeit zum Einsatz gekommene Schwundgeld (vgl. Kleespies S. 66 f.), das als Regionalwährung nach Silvio Gesell in den zwanziger Jahren in der Gemeinde Wörgl eingeführt wurde, als sog. fließendes Geld im Munde der heutigen Geldsystemkritiker und in Gestalt von Regionalwährungen vereinzelt wieder in Umlauf ist. Der Sinn dieser regelmäßigen Geld- und Sachgüterentwertung liegt darin, dass man Geld und Dinge durch etablierte Eigentumsverhältnisse nicht zum Maßstab für den Selbst- bzw. Eigenwert des Menschen machen wollte. Geld und Dinge sollten keinen Wert an sich haben, mithin Selbstzweck und damit Ersatz für den ureigensten Zweck bzw. Eigenwert des Menschen sein, sondern ihm nur als MITTEL zur Verfolgung eigener Zwecke bzw. Schaffung und Entwicklung eigener Werte dienen, relativ unabhängig vom Wert des Besitzstands und des entsprechenden Tauschmittels.

Wie der spekulative Wert zinsbehafteten Kapitals das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben zerstört

Im Falle der Zinsnahme ist das grundsätzlich nicht der Fall. Wäre Geld hier nur Mittel zum Zweck, könnte man es verleihen, ohne Zinsen dafür zu nehmen. Wie Kleespies ausführt, profitiert man als Kreditgeber durch den Akt des Verleihs ohnehin:

  1. Tätigt man eine Investition in die Produktivität des Kreditnehmers und steigert damit die Produktivität der Gesamtwirtschaft im Sinne aller Teilhaber (einschließlich eines selbst)
  2. erhält man sein Geld im Gegensatz etwa zur Investition in den eigenen Konsum (bei Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers in Gestalt der gegebenen Sicherheiten) zurück (vgl. Kleespies S. 55 f.).

Zu Recht stellt Kleespies die Frage:

»[...] was sollte ein Kapitaleigner mit seinem Überschuss-Kapital überhaupt anderes anfangen, als es zu verleihen, wenn er irgend einen sinnvollen Nutzen aus diesem Kapital ziehen möchte (dasselbe gilt natürlich sinngemäss für jede Form des Kapitals, also auch Sachgüter)?«

 

und beantwortet die Frage mit spitzer Feder:

 

»- Sollte er das Geld vielleicht verbrennen, um damit zu heizen?

  - Sollte er sein Kopfkissen damit ausstopfen, weil es sich auf den
    Geldscheinen so bequem liegt?

  - Sollte er sein Zimmer, Verzeihung, Schloss, damit tapezieren?

  - …«

Tatsächlich ist der Wert des Kapitals, das der Kreditgeber verleiht, vollkommen abhängig davon, dass jemand anderes es für seine wirtschaftlichen Aktivitäten benötigt: »Kapital erzeugt aus sich selbst heraus – NICHTS. Kapital, Geld allein hat ohne weitere bedürftige Wirtschaftsteilnehmer genau diesen wirtschaftlichen Verleih-Wert: KEINEN.« (Kleespies S. 58)

Bankenviertel - piqs.de
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Doch in eben dieser Abhängigkeit des Kapitalwerts von der Bedürftigkeit anderer Wirtschaftsteilnehmer liegt auch der Grund dafür, dass Kapitaleigner bzw. Investoren bis heute mit großer Selbstverständlichkeit Zinsen für ihr Kapital verlangen. Denn die damit verbundene Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner (vgl. Kleespies S. 48 f.) steigert den Wert des Kapitals und damit das Selbstwertgefühl seiner Eigner künstlich auf Kosten der anderen, auf Kapital bzw. Kredite angewiesenen Wirtschaftsteilnehmer. »Wir sehen also, dass der Urmythos [dass es sich bei der Zinsnahme um die berechtigte Erhebung einer Kapitalnutzungsgebühr handelt, NH], wie alle anderen mit dem heutigen Geldsystem zusammenhängenden Mythen auch, künstlich erzeugt wurde, indem die Kapitaleigner, bzw. ›das Kapital‹ insgesamt, suggeriert haben, dass ihr Kapital von vornherein mehr wert sei als die realen damit erzeugten Güter.« (Kleespies S. 58)

So viele reale Werte in Form von Produktionsgütern Kreditnehmer auch schaffen mögen, um ihre Schulden zu tilgen, stets müssen sie »draufzahlen«, um den Kreditgebern eines Tages auf Augenhöhe begegnen zu können. Bei der Zinsnahme handelt es sich letztlich um nichts anderes als eine Maßnahme zur Steigerung eines scheinbar realen (Kapital-)Werts, der sich bei näherem Hinsehen als irreal und nicht weniger spekulativ erweist als die Finanzprodukte, mit deren Handel die Banken- und Finanzbranche die Welt im Jahr 2008 an den Rand des Ruins trieb und die derzeitige Staatsschuldenkrise auslöste.

Scoreboard - piqs.de
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Wie jede Form spekulativen Geschäfts basiert auch das Kreditgeschäft auf einem Akt der Überbewertung. Als solcher wird er jedoch weder vom Kreditnehmer noch vom Kreditgeber wahrgenommen. In den Augen beider handelt es sich beim verzinsten Kapitalwert schlicht um den realen Wert, den der Kreditnehmer, der Vergleichbares nicht aufzubieten hat, erwirtschaften muss, um seine Schulden zu begleichen. Die immer bereite Neigung jedes Einzelnen zur Unter- bzw. Minderbewertung seiner selbst lässt den dem Kreditgeschäft zugrunde liegenden Akt der Überbewertung eines anderen und seines Kapitals schlicht als Normalität erscheinen. Denn im Grunde mangelt es allen, den Verlierern wie auch den Gewinnern des bestehenden Systems, am Gefühl für den Wert ihrer selbst bzw. die Rechtmäßigkeit ihrer persönlichen Ansprüche und Bedürfnisse; und alle gleichermaßen streben danach, diesen Mangel zu kompensieren, indem sie sich in materieller Hinsicht mit anderen messen bzw. ihnen ebenbürtig oder gar überlegen fühlen können.

Occupy Walking Dead - piqs.de
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In seiner Schrift »Geldsystem« spricht Kleespies von dem »wahren Motor der Volkswirtschaft« (S. 47), der »Gier«, die sich signifikant in den raubritterartigen Aktivitäten der Banker im Jahr 2008 zeigte: und zwar in ihrem Streben nach immer noch höheren Gewinnen in einer Zeit, in der die Renditen aufgrund stagnierenden Wachstums realwirtschaftlich gesehen nicht mehr gesteigert werden können. Bei dieser »Gier«, die scheinbar ausschließlich die Angehörigen der Banken- und Finanzbranche umtreibt, handelt es sich in Wirklichkeit um das kompensatorische Bedürfnis, das Selbstwertgefühl durch die Vermehrung materieller Besitztümer zu steigern, wie es die meisten Menschen in unserer Gesellschaft aufgrund der genannten Umstände von Kindesbeinen an entwickeln. Bei den Akteuren der Banken- und Finanzbranche fällt diese »Gier« nur deshalb so sehr ins Auge, weil der Versuch der Kompensation trotz der selbstzerstörerischen Ausmaße, die ihre Geschäftspraktiken im Zuge der Krise annahmen, offensichtlich von Erfolg gekrönt war; wohingegen ein Großteil der Menschen, die selbst nach Gewinn auf der Basis spekulativer Anlagen strebten, bei diesem Unterfangen scheiterte und den Wertverlust ihrer Papiere hinnehmen musste.

Tatsächlich besteht der einzige Unterschied zwischen den Verlierern und Gewinnern des Systems darin, dass es letzteren gelingt, aus der »Gier« zahlreicher anderer, die ebenfalls nach Gewinn und persönlichem Vorteil streben, Profit zu schlagen. Gewinner und Verlierer sind gleichsam nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Dem »Verlierer« gelingt es lediglich langfristig nicht mehr, sich über sein mangelndes Selbstwertgefühl hinweg zu täuschen. Da am Ende keiner zu den »Verlierern« gehören möchte, wird er wiederum nichts unversucht lassen, sein angeschlagenes Selbstwertgefühl kurzfristig zu Lasten von noch »schwächeren« Wirtschaftsteilnehmern zu stabilisieren.

Die im Zusammenhang mit der exponentiell wachsenden Zinslast häufig erwähnte Schuldenspirale, deren destruktiven Windungen inzwischen auch die sog. Industrieländer anheimgefallen sind, ist bei näherem Hinsehen mit einer nicht minder exponentiell wachsenden Spirale der Gewalt verbunden:

Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Rückbau bzw. mangelnder Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitigen Lohnsenkungen und Massenarbeitslosigkeit sind längst nicht mehr nur Themen der sog. Entwicklungs- und Schwellenländer, die bereits seit vielen Jahrzehnten unter der Schuldknechtschaft und der damit verbundenen quasi-imperialen Handelspolitik der internationalen Gläubiger-Staaten leiden. Diese selbst drohen nun auf die Seite der Schuldner zu geraten und nähern sich dem Punkt der naturgesetzmäßig zu erwartenden Zahlungsunfähigkeit. Sie wird am Ende nur abzuwenden sein durch Schuldenerlass, Währungsreform oder Formen der Kriegswirtschaft, die rasant steigendes Wirtschaftswachstum ermöglichen, z.B. durch Aufrüstung oder den Wiederaufbau im Krieg zerstörter Besatzungsgebiete.

Wege aus der Krise

Besinnung auf das konstruktive Wesen menschlichen Miteinanders

Der liberalistischen Ideologie zufolge ist der Mensch beseelt von einem natürlichen Egoismus, der in ihm den unablässigen Drang erzeuge, stets zu seinem persönlichen Nutzen zu handeln und die Übervorteilung seiner Mitmenschen billigend in Kauf zu nehmen. Es ist bezeichnend, dass viele Menschen dieses einseitige Bild in Bezug auf sich selbst – wenngleich unter Ausnahme ihres Verhaltens gegenüber persönlichen Angehörigen – widerstandslos akzeptieren. Sie verkennen dabei völlig, dass diese Haltung nicht ursächlich für ihr alltägliches Verhalten ist, sondern die Folge eines tief wurzelnden Minderwertigkeitsgefühls, das durch subtile gesellschaftliche Repressionsmechanismen, die von Kindesbeinen an auf sie einwirken, in jedem erst hervorgerufen wird.

In dem Bestreben, leidvolle Gefühle aus dem Bewusstsein zu verdrängen, identifiziert man sich gerne mit dem von der liberalistischen Ideologie angebotenen Bild des freien konkurrenzfreudigen Einzelkämpfers. Zugleich überdeckt man damit aber zum großen Teil den nicht minder stark in einem veranlagten menschlichen Gemeinsinn, der sich eindrucksvoll in der Eltern- und Freundesliebe zeigt und ohne Weiteres auf das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen ausdehnen ließe, wenn die Vorzeichen, unter denen dieses geführt wird, andere wären. Tatsächlich macht sich der menschliche Drang, aufopferungsvoll und in konstruktivem Miteinander tätig zu werden, sogar besonders häufig im Rahmen des in den Augen Vieler so deutlich vom Privaten geschiedenenen Arbeits- und Berufsleben bemerkbar, in dem es Tag ein, Tag aus scheinbar rein wettbewerblich zugeht.

In seinem Buch »Schulden« bemerkt Graeber, dass Kapitalismus und Kommunismus bei näherem Hinsehen keinen Gegensatz bilden, sondern, im Gegenteil, der alltägliche »real existierende Kommunismus«, wie Graeber die gelungenen menschlichen Interaktionen auch und gerade in der modernen Arbeitswelt nennt (vgl. S. 101), ein unabdingbarer Bestandteil kapitalistischer Wirtschaftsprozesse ist. Betriebliche Zusammenarbeit beruhe eben nicht auf dem propagierten natürlichen Egoismus und einer damit verbundenen andauernden subjektiven Kosten-Nutzen-Analyse, sondern auf einem dem Menschen innewohnenden Bedürfnis, ohne Kalkül arbeitsteilig und zum gegenseitigen Nutzen tätig zu werden:

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»Fast alle, die bei einem beliebigen Projekt zusammenarbeiten, folgen diesem Prinzip. Wenn jemand beim Reparieren eines kaputten Wasserrohrs sagt: ›Gib mir den Schraubenschlüssel‹, wird sein Kollege in der Regel nicht antworten: ›Und was bekomme ich dafür?‹ – nicht einmal, wenn die beiden für Exxon-Mobil, Burger King oder Goldman Sachs arbeiten. Der Grund ist schlicht Effizienz (und das ist reichlich ironisch, wenn man bedenkt, dass nach allgemeiner Auffassung ›Kommunismus einfach nicht funktioniert‹): Wenn Sie wollen, dass etwas wirklich erledigt wird, besteht die effizienteste Methode darin, die Aufgaben nach Fähigkeiten zu verteilen und den Menschen zu geben, was sie brauchen, um diese Aufgaben zu bewältigen. Man könnte es sogar als einen Skandal des Kapitalismus bezeichnen, dass die meisten kapitalistischen Unternehmen intern kommunistisch operieren. Zugegeben, sie operieren nicht sehr demokratisch«. Doch je »dringlicher es ist, zu improvisieren, desto demokratischer wird die Kooperation in der Regel. Erfinder haben das immer gewusst, Start-up-Unternehmer stellen das häufig fest, und Computer-Ingenieure haben das Prinzip kürzlich wiederentdeckt«. (Vgl. Graeber S. 102)

Die höchst subtilen Formen der Gewalt, von denen unsere moderne zivilisierte Gesellschaft durchdrungen ist und die zugehörige Ideologie, die uns glauben macht, dass es sich nicht um Formen der Gewalt, sondern um notwendige Formen gesellschaftlicher Organisation handelt, bringen uns dazu, uns teilweise egoistisch und rücksichtslos gegenüber unseren Mitmenschen zu verhalten und die Rechtmäßigkeit ihrer Ansprüche und Bedürfnisse nicht anzuerkennen. Eine besondere Gefahr liegt dabei, wie Graeber richtig bemerkt, in der Tatsache, dass wir heute als freier denn je gelten, unser Blick für die Subtilität der Gewalt mithin von Kindesbeinen an vorsätzlich verstellt wird. Graeber bemerkt:

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»Formal ist die Sklaverei abgeschafft, aber (wie jeder bestätigen kann, der einen Vollzeit-Job ausübt) der Gedanke, dass man von seiner Freiheit entfremdet werden kann, zumindest zeitweise, hat sich bis heute gehalten. Sie bestimmt, wie die meisten von uns den Großteil unserer wachen Stunden verbringen, normalerweise abgesehen von den Wochenenden. Die Gewalt wurde weitgehend aus dem Blickfeld verbannt. Dies hat jedoch zum großen Teil damit zu tun, dass wir uns nicht mehr vorstellen können, wie eine Welt aussähe, die auf sozialen Vereinbarungen beruht, welche nicht die ständige Bedrohung durch Elektroschockwaffen und Überwachungskameras erfordern.« (Graeber S. 221)

Stärkung der Freiheit des Einzelnen und Deanonymisierung der Wirtschaftsprozesse

Da der Einzelne der Angriffspunkt jener subtilen Formen der Gewalt wie auch die Keimzelle zur Verbesserung der bestehenden Verhältnisse ist, besteht aus meiner Sicht die einzige sinnvolle Maßnahme in der Stärkung seiner Position gegenüber der Gesellschaft, sogar der eigenen Eltern, die in die Strukturen gewalttätiger Systeme eingebunden sind und dadurch wiederum ihren Kindern, wenn auch vollkommen unabsichtlich Gewalt antun.

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Der Einzelne muss vor der Verfügbarkeit durch andere geschützt werden und zu einer echten Selbst- und -mitbestimmung gelangen. Erst wenn er wirklich frei und gewaltlos aufwächst, wird er als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft dazu beitragen können, dass sich gerechtere und effektivere Formen der Zusammenarbeit durchsetzen und die Ansprüche und Grundbedürfnisse jedes Einzelnen im eigenen Land sowie jenseits von dessen Grenzen allgemein Anerkennung finden.

Eine wichtige Maßnahme hierzu bildet meiner Ansicht nach die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Zwar wenden Geldsystemkritiker ein, ein bedingungsloses Grundeinkommen sei ohne gleichzeitige Umgestaltung des Geldsystems kaum finanzierbar und würde die sich ständig vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich nur weiter vertiefen (vgl. z.B. Kleespies S. 79 f. sowie Frost in Bedingungsloses Grundeinkommen und Geldsystem). Sie halten eine Umgestaltung des Geldsystems als erste Maßnahme für notwendig und weisen gelegentlich darauf hin, dass der zu erwartende Systemzusammenbruch zu einer solchen Veränderung genutzt werden könne.

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Graebers Studie aber zeigt mit Blick auf die Menschheitsgeschichte, dass die Mächtigen solchen Zusammenbrüchen stets mit symptombekämpfenden Maßnahmen begegnet sind, etwa indem sie Schulden erließen, bevor es zu Massenaufständen kommen konnte, oder indem sie Kriege anzettelten, wobei sie revolutionäre Umtriebe stets zu nutzen wussten.

Die systemimmanente Gewalt hingegen wurde niemals wirklich beseitigt. Nie haben die Menschen soviel persönliche Freiheit erlangt, dass sie den groß angelegten Betrug durch zinsbasierte Geld- und Finanzsysteme aufgedeckt und gemeinsam eine Systemänderung herbeigeführt hätten. Eine Umgestaltung des Geldsystems kann vermutlich erst infolge einer weitergehenden Befreiung des Einzelnen geschehen. Hierfür würden meiner Ansicht nach zunächst die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens kombiniert mit der Etablierung von Formen direkter Demokratie einen angemessenen politischen Rahmen bilden.

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Wie ich zu Beginn bereits konstatiert habe, empfinden die meisten Menschen das Wirtschafts- und Arbeitsleben, obwohl dieses einen verhältnismäßig großen zeitlichen Raum beansprucht, gegenüber ihrem Privatleben als relativ abstrakt, nachgelagert und nur indirekt mit ihnen persönlich verknüpft. Meiner Ansicht nach ist dies der Ausdruck einer Schutzhaltung, mit der der Einzelne versucht, die permanenten persönlichen Übergriffe, z.B. im Rahmen des Erwerbsarbeitssystems, innerlich abzuwehren und dagegen eine heile Welt privater Beziehungen zu stellen, in denen er sich persönlich anerkannt und aufgehoben fühlt.

Die genannten politischen Rahmenbedingungen (bedingungsloses Grundeinkommen sowie direkte Demokratie) würden zuallerst die Flucht ins Private und die damit einhergehende Gleichgültigkeit gegenüber den Prozessen des (politisch so hoch relevanten) Wirtschafts- und Arbeitslebens verhindern. Würde dem Einzelnen der von ihm beanspruchte Raum persönlicher Anerkennung und Geborgenheit offiziell, d.h. im gesellschaftlich-öffentlichen Rahmen, zugestanden, könnte er diesem Bereich auch die notwendige innere Aufmerksamkeit schenken und würde in die Lage versetzt, soz. über seinen eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und politische Verantwortung zu übernehmen – nicht nur im und für das heimische Gemeinwesen, sondern auch mit Blick auf das weltweite Miteinander.

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Es ist wichtig, dass die durch den globalisierten Handel anonymisierten Wirtschaftsprozesse für die in den abgeschotteten Märkten der sog. Industrieländer lebenden Menschen transparent gemacht werden und sie sehen, welche Opfer ihr Konsum in anderen Teilen der Welt täglich fordert. Die sogenannten Globalisierungskritiker befürworten daher schon seit langem eine Beseitigung protektionistischer Maßnahmen wie den Abbau von Wirtschaftssubventionen, eine Beschränkung der monopolistischen Marktmacht international agierender Konzerne und eine Re-Regionalisierung der wirtschaftlichen Strukturen. So sinnvoll diese Maßnahmen sicherlich wären, auch sie können womöglich erst realisiert werden, wenn das Selbstwertgefühl der Menschen hier und anderswo weiter gestärkt wird und sie bzw. wir unseren Mitmenschen in Zukunft statt mit Mitleid und Herablassung, mit Einfühlungsvermögen und echter Großzügigkeit begegnen können.

Diesen Essay habe ich im Sommer 2013 verfasst. Von heute aus gesehen (15.07.2015) erweist er sich bedauerlicherweise als aktueller denn je. In Anbetracht der schweren Not, in die sie das griechische Volk stürzt, schäme mich für die Europapolitik der Bundesregierung und aller europäischen Politiker, die sich zu Erfüllungsgehilfen machen.

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