Der Trick mit dem Buch – über Christopher Eckers Roman »Die letzte Kränkung«

Anspruchsvolles Schnur-Entwirrspiel
Anspruchsvolles Schnur-Entwirrspiel

Dieser Tage hat Christopher Ecker einen neuen Roman vorgelegt. Obwohl seine erste Erzählung »Sulewskis Tag«, die ich damals selbst mit herausgegeben habe, bereits 1994 erschienen ist und Ecker seither ein umfangreiches Werk mit mehreren Erzählungen, Gedichtbänden und Romanen vorgelegt hat, ist er bis heute ein weitgehend unbekannter Autor der deutschen Literatur geblieben. Öffentliche Aufmerksamkeit, u.a. von Dennis Scheck und Alban Nikolai Herbst, wurde ihm erstmals durch den 2012 erschienenen Roman Fahlmann zuteil, der mit gut 1000 Seiten ein wahrhaft monumentales Werk ist, sich dennoch leichtgängig liest und zugleich über eine beeindruckende kompositorische Komplexität verfügt. Nun hat Christopher Ecker den 120-seitigen Roman Die letzte Kränkung veröffentlicht.

Im Waschzettel des Buches wird der Text als »atmosphärisch dichtes Vexierspiel« angekündigt, »das mit den Mitteln der literarischen Phantastik die spannungsreiche Geschichte einer Identitätssuche erzählt«. Laut Wikipedia ist ein Vexier (von lat. vexare = plagen, quälen) ein Geduldspiel mit der Aufgabe, ein Teil abzunehmen oder anzubauen. So verfügt auch Eckers Roman über einen klar erkennbaren Handlungsfaden, der auf den ersten Blick Bezüge zu klassischem Abenteuergarn aufweist:

Ein Mann, der als namenloses erzählendes Ich in Erscheinung tritt, lebt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs offenbar als deutscher Undercover-Agent in einem bretonischen Fischerdorf und wartet auf Instruktionen von Auftraggebern. Er hat sich in einem Hotel eingemietet, ist umgeben von feindlichen Agenten, denen er auf der Straße begegnet und die sein Zimmer durchsuchen, und pflegt Kontakt zu einer Dorfbewohnerin namens Solange, die wohl so etwas wie seine Geliebte ist. Doch all diese geradezu klischeehaften Bezüge zu den Topoi des Agentenromans bleiben in Eckers Text schemenhaft, werden nur angedeutet, gleichsam um eine Ebene der Erzählung deutlicher hervorzuheben, die ganz offenkundig nicht im Faktischen wurzelt und auf die signalartig ein merkwürdiger Schlitz im Boden des Hotelzimmers hindeutet:

»Plötzlich war er da gewesen. Eines Nachts versank ich darin mit dem bloßen Fuß, als ich im Dunkeln zur Toilette ging, und erschrak mich zu Tode. Es war keineswegs ein breiter Spalt zwischen den Dielen, sondern eine diagonal zur Ausrichtung der polierten Holzbretter verlaufende, durchaus organisch anmutende Öffnung, die von zwei trockenen harten und sich wie Leder anfühlenden Wülsten verschlossen wurde.« (Ecker S. 14)

In diesem Schlitz lässt der Held der Erzählung verschiedene Gegenstände, eine Katze, einen feindlichen Agenten und am Ende mit den (auch die Erzählung) abschließenden Worten: »Und so kam ich zu Euch«, sogar sich selbst verschwinden. Andrea Ring, die sich kurz nach Erscheinen des Romans für den NDR mit Christopher Ecker zum Interview traf, bemerkt, dass diese des öfteren als »Schlitz« bezeichnete organisch anmutende Öffnung »allerdings Assoziationen weckt« und erwägt eine »überdimensionierte Vagina« als Deutung, gegen die der Autor sich jedoch sogleich mit den Worten verwahrt: »Nein. Auf gar keinen Fall. Das ist eine Interpretation – aber es wird ja eindeutig nur als eine Öffnung beschrieben, die irgendetwas miteinander verbindet.«

Was diese vagina-ähnliche Öffnung miteinander verbindet bzw. zu welcher Welt sie gegebenenfalls Zugang gewährt, diese Frage lässt der Roman ebenso unbeantwortet wie viele andere, die sich dem Leser in Bezug auf das Vorleben des Protagonisten und seine Anwesenheit im Dorf aufdrängen. Noch weniger als der Leser vermag allerdings der Ich-Erzähler selbst Licht in das Dunkel um seine Existenz zu bringen, wird gepeinigt von Erinnerungslücken und Blackouts und bemerkt eines Abends gegenüber »Agentenliebchen« Solange, die ihn offenbar gelegentlich mit ihrem verschollenen Ehemann, dem bretonischen Fischer Yann, verwechselt, schicksalsergeben: »Ich habe von Minute zu Minute mehr das Gefühl, gar nichts mehr zu verstehen. Die Welt ist mir zum Rätselspiel geworden. Alle sind überfreundlich zu uns. Wieso? Der Holländer hält sich von mir fern. Wieso? Der Pfarrer macht irgendwelche Geschäfte mit meinen Landsleuten. Wieso tut er das?« (Vgl. Ecker S. 80)

Statt die Klärung dieser Fragen aktiv voranzutreiben, gibt der Protagonist sich während seines Aufenthalts im Dorf sinnlichen Freuden und pubertär anmutenden Riten hin, genießt die ihm dauernd servierten und fachkundig zubereiteten bretonischen Delikatessen, spricht großen Mengen französischen Weins und regionalen Calvados' zu, tanzt auf Dorffesten, übergibt sich bei jeder Gelegenheit, schläft bis in den Tag hinein seinen Rausch aus, erfrischt sich danach durch ein Bad im Meer, streift durchs Dorf und pfeift munter »Kinder- und Kirchenlieder« vor sich hin (vgl. Ecker S. 111).

Obwohl der Erzähler mit seinen Erkenntnissen nur wenig dazu beiträgt, ergeben sich für den Leser im Verlauf der Erzählung ein paar Bezüge, die eine Lösung der Rätsel auf einer psychologischen Deutungsebene nahelegen: Der feindliche Agent erweist sich als eine Art Doppelgänger des Ich-Erzählers, die Dorfbewohner sind deshalb so freundlich zu ihm, weil er (offenbar unbewusst) die Identität jenes verschwundenen Fischers Yann angenommen hat. Der Fremde, der im Hotelzimmer zugange war, ist auf surreale Weise identisch mit einem bretonischen Heiligen namens Mélar, von dessen Sage die Krypta unter dem Altar der Dorfkirche zeugt. Ist somit der Schlitz (durch den der Fremde wohl ursprünglich ins Hotelzimmer kam) ein weiterer Zugang zu dieser Krypta oder zur mythischen Welt jenes Heiligen, die in irgendeiner Weise symbolisch für das Leben des Protagonisten steht?

Dergleichen Andeutungen einfacher Lösungen tiefer Rätsel ist eine Spezialität Eckers, die sich auf ähnliche Weise bereits in seinem 1997 erschienenen Roman »Die leuchtende Reuse« bemerkbar macht. Darin versucht ein pensionierter Lehrer das Geheimnis um einen ursprünglich am Bett fixierten und dennoch auf rätselhafte Weise aus dem Krankenhaus entkommenen Patienten aufzudecken und verstrickt sich dabei in den losen Enden eines Geflechts scheinbar miteinander zusammenhängender Ereignisse aus der Vergangenheit. In einem Augenblick der Erleuchtung ruft der Protagonist Josef Gripke aus: »Ich verstehe zwar nicht, wie alles zusammenhängt, aber daß alles zusammenhängt, ist sicher!«

So kann auch der Leser des Romans »Die letzte Kränkung« darauf hoffen, dass er die Stellen, an denen sich das von Ecker gesponnene Abenteuergarn in ein semantisch überschaubares Gesamtkunstwerk fügt, im Verlauf der Lektüre noch herausfinden wird – um am Ende vielleicht zu einem ähnlich zwiespältigen Ergebnis zu gelangen wie Walter Hinck, der damals in der FAZ (in der übrigens einzigen Rezension einer überregionalen Zeitung) über »Die leuchtende Reuse« schrieb: »Die Geschichte des entwichenen Patienten steht exemplarisch für den Erzähler selbst: Er ist ein Entfesselungskünstler, der keine Knoten löst. Ecker gibt den Geschehnissen immer wieder Halt in den Niederungen der Alltäglichkeit und zieht ihnen immer wieder den Boden weg. […] Das ist nicht jedermanns Fall, und Ecker wird sich über mögliche Leser-›Quoten‹ keinen Illusionen hingeben. Es schüttelt der Sturmwind phantastischer Einfälle auch manche taube Nuß vom Baum. Aber wer Freude am literarischen Vexierspiel hat, nimmt sie in Kauf.«

Folgt man der Logik von Hincks Ausführungen, würde dieses »Vexierspiel« dem Leser allerdings unendlich viel Geduld abverlangen, da er auf eine Lösung im Rahmen der Erzählung offenbar nicht hoffen darf. Wie Hinck mit seiner Bemerkung bezüglich »mögliche[r] Leser-›Quoten‹ zu bedenken gibt, könnte dies der Grund sein, weshalb Ecker als Autor größerer Erfolg bisher versagt blieb. Alban Nikolai Herbst hingegen hat dafür eine weniger selbstgefällige Erklärung und merkt in seinem Blog kritisch an, Eckers Name sei »im Feuilleton und Buchhandel auf eine Weise unbekannt, daß von bewußtem Verschweigen die Rede sein muß«. Eigentlich gehöre Ecker, »sowohl was seine Ideenfülle als vor allem auch seine literarische, sowohl stilistische wie konzeptuelle Spannkraft anbelangt, in die allererste Linie der deutschen und eigentlich der internationalen Literatur«.

Tatsächlich bewegt Ecker sich mit seinen Werken, die eine Fülle von Anspielungen und Bezugnahmen auf bekannt gewordene Werke von Vorgängern und Wahlverwandten wie E.T.A Hoffmann, Franz Kafka, H.P. Lovecraft, Philip K. Dick u.a.m. bergen, mit diesen künstlerisch auf Augenhöhe. Auch Andrea Ring schwärmt im NDR-Interview von der »faszinierend klaren Sprache« und den »unglaublich sauber gefrästen Sätzen« des Romans »Die letzte Kränkung«: »Jedes Bild stimmt, jedes Detail greift, ohne auch nur einen Moment Klischee zu sein.« Doch gerade diese stilistische Perfektion und metaphorische Stimmigkeit vermag ein nach angemessener Interpretation strebender Leser als kränkend zu empfinden. Wie man an Rings eigenen etwas unbeholfenen und vom Autor gelegentlich sogar zurückgewiesenen Deutungsversuchen erkennen kann, erweist sich die Handlung des Textes bei näherem Hinsehen als im metaphorischen Sinne nicht auflösbar, so symbolträchtig sie auf den ersten Blick erscheinen mag.

Es gibt aber einen relativ einfachen Trick, das von Ecker erfundene »Vexierspiel« nicht als Niederlage und womöglich »letzte Kränkung« des eigenen Ringens um angemessene Deutung erleben zu müssen. Lies Dir einmal diese Textstelle durch:

»Die folgenden Tage beobachtete ich mich in matter Gelassenheit, als wäre ich der Held eines Abenteuerromans, in dem man in den Minuten vorm Einschlafen liest. Das Buch versinkt fast hinter dem Horizont der Bettdecke, Zeilen verschwimmen zu flirrenden Rätseln und Traumschlingen greifen wie Krakenarme nach der Handlung, durch die sich der Leser, kaum ist er noch vom Helden unterscheidbar, schlaftrunken vorwärtstastet.« (Ecker S. 115)

So könnte es Dir auch beim Lesen von Eckers Roman ergehen. Dann siehst Du, wenn Du seine Zeilen liest, stets nur den »Helden des Romans« und das, was er darin die ganze Zeit über tut: »Er redet mit niemandem. Er frühstückt auf der Terrasse. Er macht lange Spaziergänge, um jeden Gedanken abzutöten. Nur selten reißt ihn ein grell angestrahlter Eindruck aus der dumpfen Betäubung: der Geruch einer frisch gestrichenen Hauswand; der die schmeichelnde Glätte empfindlich störende Riss am Rand eines Weinglases; die verschnaufende Hummel auf dem Schienbein des Heilands an einem steinernen Wegkreuz.« (Ecker S. 116)

Bleibst Du beim Lesen des Buches aber wach, dann siehst Du in diesen scheinbaren Banalitäten die Wunder Deines eigenen Lebens, von denen eines der faszinierendsten darin besteht, dass Du Dich in einem gelungenen Werk der Kunst stets zu spiegeln und es als Rezipient dadurch zu blühendem Leben zu erwecken vermagst. Dem »Vexierspiel« von Eckers Roman kannst Du mit Leichtigkeit etwas abgewinnen, wenn Du bereit bist, ihm »ein Teil« von Dir selbst »anzubauen«. Das ist der Trick!

Es gilt nur wachsam zu bleiben, und zwar nicht nur in Bezug auf den »Helden des Romans« und das darin abgebildete Geschehen, sondern in ihm und durch ihn vor allem in Bezug auf Dich und das Geschehen Deines eigenen Lebens.

Denn – Vorsicht! –: »Spiele lassen uns vergessen, was unsere wahre Aufgabe ist. Lesen ist ein Spiel. Auch Schreiben. Auch Reden, Trinken, Baden im Meer. Denken. Alles, was wir tun, ist Spiel. Niemals stellen wir uns der Aufgabe, die in jedem Augenblick unseres Daseins vor uns steht wie ein geöffnetes Tor, das wir nicht sehen, nicht sehen können oder nicht sehen wollen, und an dem wir, um beispielhaft zwei Extreme anzuführen, lachend oder weinend vorbeigehen.« (Ecker S. 100)

Dann sehen wir nicht, dass dieses »Tor« in Gestalt des aufgeschlagenen Buches direkt vor uns liegt und uns durch die Lektüre Zugang zum Geschehen unseres Lebens gewährt, das oft genug darin besteht, dass wir uns fragen, was dieses und jenes wohl bedeuten mag, etwa der Schlitz im Boden eines Hotelzimmers in Christopher Eckers Roman »Die letzte Kränkung«. – Denn die erste haben wir wahrscheinlich schon viele Jahre zuvor hinnehmen müssen.

»Die letzte Kränkung« ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen und kostet 14,95 €

Zur Facebook-Seite von Christopher Ecker

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