Über mich und »Die Ordnung der Unterwelt«

Immer schon habe ich gerne Geschichten gelesen, bin durch Worte wie durch eine Tür eingetreten in eine fremde Welt, die zugleich auf geheimnisvolle Weise mit mir selbst zu tun hat. Denn für die Imaginierung des geschilderten Geschehens vor dem inneren Auge ist man als Leser ebenso verantwortlich wie für die Beantwortung der Frage, was das Gelesene eigentlich bedeutet. Es lag nahe, dass ich Literaturwissenschaft studierte. Im Jahr 1993 begegnete mir dann während des Studiums ein Werk, das meine wissenschaftliche Arbeit in besonderer Weise prägen sollte: Hans Henny Jahnns umfangreiche Romantrilogie Fluss ohne Ufer. Zehn Jahre lang habe ich mich eingehend damit befasst und bin der Frage nachgegangen, welchen Anteil Leser und Leserinnen, mithin ich selbst, an der Konstituierung der Textbedeutung haben.

Die Ergebnisse meiner Forschungen habe ich in einer umfangreichen Dissertation unter dem Titel »Die Ordnung der Unterwelt«. Zum Verhältnis von Autor, Text und Leser am Beispiel von Hans Henny Jahnns »Fluss ohne Ufer« und den Interpretationen seiner Deuter veröffentlicht. Sie ist als kostenloser Download im Institutionellen Repositorium der Universität Konstanz erhältlich wie auch – in der aktuellsten Fassung – hier auf der Website (s. unten).

Die These: Literaturwissenschaftler erzählen auch »nur« Geschichten

In meiner Dissertation habe ich folgende These aufgestellt:

Beim Lesen tritt man in eine Beziehung zu der Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt ist. Die Beziehung des Lesers zur Perspektivfigur ist ebenso von vereinnahmender Idealisierung und negierender Abgrenzung geprägt wie seine Beziehung zu »realen« Menschen und Dingen. Im Akt der Interpretation wie im sogenannten wirklichen Leben verbleibt diese Beziehung jedoch größtenteils im Unbewussten und prägt dadurch auch maßgeblich das Verhältnis des Lesers zur »Figur« des Autors. Von diesem nämlich macht sich der Leser auf der Basis seiner Beziehung zu den Figuren und zur Handlung eine ausgesprochen persönlich gefärbte Vorstellung. Er erfindet (sich) den Autor gewissermaßen, wie dieser die Figuren seiner Geschichte erfindet, und produziert somit im Akt der Deutung selbst Erzählstrukturen.

Unter diesem Gesichtspunkt wird die Grenze zwischen literarischer und wissenschaftlicher Textproduktion durchlässig. Der Literaturwissenschaftler wird zum Geschichtenerzähler, der, wenn er sich seinem Forschungsgegenstand, dem literarischen Text, nähert, zugleich den Raum seiner persönlichen Fantasien und Wertvorstellungen betritt. Diesen vermag er in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text zu erkunden, um am Ende eine Zugangsweise zu entwickeln, die sich ihrer Subjektivität bewusst und somit objektiver ist als vorherige Interpretationen.

Mein Konflikt mit der Wissenschaft, die ihre Kreativität verleugnet

Alles schön und gut, könnte man sagen. Nur entspricht diese Sichtweise auf die Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers nicht dem üblichen Selbstbild, das keinerlei Raum lässt für Subjektivität. Die meisten meiner »Kolleginnen« und »Kollegen« betrachten ihre wissenschaftliche Produktion nun einmal in Abgrenzung zur literarischen. Dieser gestehen sie den Raum des Subjektiven zu, ja, betrachten ihn sogar als konstitutiv für die Entstehung literarischer Texte. Ihre eigene wissenschaftliche Produktion hingegen hat das Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit zu erfüllen, das Kriterium für Wissenschaftlichkeit schlechthin (zur vertiefenden Einführung s. Über Projektionen in Literaturwissenschaft und Biographik anlässlich Jahnns »Briefen an Ellinor«).

Alles schön und gut, könnte man sagen. Nur entspricht diese Sichtweise auf die Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers nicht dem üblichen Selbstbild, in dem keinerlei Raum für Subjektivität ist. Die meisten meiner »Kolleginnen« und »Kollegen« betrachten ihre wissenschaftliche Produktion nun einmal in Abgrenzung zur literarischen, der sie den Raum des Subjektiven zugestehen, ja, sogar als konstitutiv für ihre Entstehung betrachten. Literaturwissenschaftliche Forschungsergebnisse hingegen erfüllen in ihren Augen per se das Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit und damit das Kriterium für Wissenschaftlichkeit schlechthin. Meine Dissertation nun ist gespickt mit Analysen »wissenschaftlicher« Interpretationen, anhand derer sich die subjektive Befangenheit der Interpreten deutlich erkennen lässt. Bei der Ersteinreichung der Dissertation im Jahr 2004 verlangten beide Gutachter in ihren Stellungnahmen die Streichung des größten Teils dieser Sekundärliteraturanalysen mit dem Hinweis, sie seien von keinerlei wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und ich solle mich gefälligst auf die Analyse der Primärliteratur respektive der Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« beschränken. Man gab mir die Arbeit »zur Beseitigung von Mängeln« zurück, wogegen ich Widerspruch einlegte, der in ein sich eineinhalb Jahre hinziehendes Widerspruchsverfahren mündete, an dessen Ende es dann wie durch ein Wunder doch noch zur Einigung kam. Die besagten Sekunderliteraturanalysen durften größtenteils in der Arbeit enthalten bleiben, dafür gab man mir die für eine Dissertation verfügbare schlechteste Note: opus idoneum (= geeignetes Werk). Meine Promotion konnte ich fünf Jahre später im Jahr 2009 endlich abschließen.Alles schön und gut, könnte man sagen. Nur entspricht diese Sichtweise auf die Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers nicht dem üblichen Selbstbild, in dem keinerlei Raum für Subjektivität ist. Die meisten meiner »Kolleginnen« und »Kollegen« betrachten ihre wissenschaftliche Produktion nun einmal in Abgrenzung zur literarischen, der sie den Raum des Subjektiven zugestehen, ja, sogar als konstitutiv für ihre Entstehung betrachten. Literaturwissenschaftliche Forschungsergebnisse hingegen erfüllen in ihren Augen per se das Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit und damit das Kriterium für Wissenschaftlichkeit schlechthin. Meine Dissertation nun ist gespickt mit Analysen »wissenschaftlicher« Interpretationen, anhand derer sich die subjektive Befangenheit der Interpreten deutlich erkennen lässt. Bei der Ersteinreichung der Dissertation im Jahr 2004 verlangten beide Gutachter in ihren Stellungnahmen die Streichung des größten Teils dieser Sekundärliteraturanalysen mit dem Hinweis, sie seien von keinerlei wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und ich solle mich gefälligst auf die Analyse der Primärliteratur respektive der Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« beschränken. Man gab mir die Arbeit »zur Beseitigung von Mängeln« zurück, wogegen ich Widerspruch einlegte, der in ein sich eineinhalb Jahre hinziehendes Widerspruchsverfahren mündete, an dessen Ende es dann wie durch ein Wunder doch noch zur Einigung kam. Die besagten Sekunderliteraturanalysen durften größtenteils in der Arbeit enthalten bleiben, dafür gab man mir die für eine Dissertation verfügbare schlechteste Note: opus idoneum (= geeignetes Werk). Meine Promotion konnte ich fünf Jahre später im Jahr 2009 endlich abschließen.

Meine Dissertation nun enthält eine Reihe von Analysen »wissenschaftlicher« Interpretationen, anhand derer sich die subjektive Befangenheit der Interpreten gegenüber ihrem Forschungsobjekt deutlich erkennen lässt. Bei der Ersteinreichung im Jahr 2004 an der Universität des Saarlandes verlangten die beiden in meinem Promotionsverfahren bestellten Berichterstatter die Streichung des größten Teils dieser Sekundärliteraturanalysen mit dem Hinweis, sie seien von keinerlei wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und ich hätte mich gefälligst auf die Analyse der Primärliteratur respektive der Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« zu beschränken.

Man gab mir die Arbeit »zur Beseitigung von Mängeln« zurück. Dagegen legte ich Widerspruch ein, was in ein Verfahren mündete, das sich eineinhalb Jahre hinzog und an dessen Ende es wie durch ein Wunder doch noch zur Einigung kam. Die besagten Sekundärliteraturanalysen durften größtenteils in der Arbeit enthalten bleiben, dafür gab man mir die für eine Dissertation verfügbare schlechteste Note. Meine Promotion konnte ich 2009, fast fünf Jahre später, endlich abschließen.

Der auf den Geisteswissenschaften lastende Rechtfertigungsdruck

Obwohl mich das aus idealistischen Gründen in Kauf genommene Widerspruchsverfahren Zeit und Nerven gekostet hat, habe ich heute ein gewisses Verständnis für die Reaktion der wissenschaftlichen Gutachter auf meinen Vorstoß, die Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft in Frage zu stellen.

Nimmt man meine These ernst, steht nicht nur die gängige wissenschaftliche Methodik zur Debatte, sondern auch die Funktion der Literaturwissenschaft als Vermittlerin gesicherten Wissens über Texte und deren Inhalte. Rasch ist man dann bei der Frage, ob eine Wissenschaft, die auf gesichertes Wissen weitgehend verzichtet und dafür um so mehr Raum zur Selbsterfahrung bietet, an der Universität überhaupt eine Existenzberechtigung hat.

Wie alle geisteswissenschaftlichen Forschungsfelder steht auch die Literaturwissenschaft unter dem Druck des allgegenwärtigen ökonomistischen Prinzips der Effizienz- und Ertragssteigerung: Es kommt darauf an, in möglichst kurzer Zeit einen möglichst hohen Output an (wie auch immer) verwertbaren Forschungsergebnissen und Publikationen zu produzieren und dabei noch ein respektables Pensum an Lehre zu absolvieren. Hat man einen Arbeitsplatz in Forschung und Lehre, kann man sich diesem Druck nicht entziehen. Verzichtet man auf ihn, riskiert man, zu erleben, was mir durch meine langjährige Forschungsarbeit zuteil wurde:

Nicht nur wissenschaftlich geriet ich ins Abseits, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt. Während ich forschte, konnte ich anderweitig keine Berufserfahrung sammeln und hielt mich, ständig von Arbeitslosigkeit bedroht, mit prekären Jobs über Wasser, versuchte mich als Kleinselbstständige und geriet dabei unter Druck durch Renten- und Krankenversicherungsträger, die laufend Belege für meine Selbstständigkeit und meine wenigen schwankenden Einnahmen verlangten. Als ich 2005 schließlich offiziell arbeitslos wurde, erlebte ich dies trotz der gesellschaftlichen Ächtung, die damit verbunden ist und die ich zu Recht gefürchtet hatte, wie eine Erlösung. Denn zum ersten Mal seit Jahren hatte ich durch die monatlichen ALG-II-Zahlungen wieder ein geregeltes Einkommen.

Freiheit der Wissenschaft und bedingungsloses Grundeinkommen

Es hat einige Jahre gedauert, bis ich diese Erfahrung verarbeitet und für mich ausgewertet habe. Heute sehe ich klar, dass mir damals Unrecht geschah, und zwar nicht allein durch die Vertreter der Forschung, die meine Arbeit als wissenschaftlichen Beitrag nicht anerkennen wollten. Viel mehr richtete sich die gesellschaftliche Mentalität, die den Einzelnen noch immer in der Pflicht sieht, unter allen Umständen für sein Einkommen selbst zu sorgen, gegen mich.

Darüber hinaus schadete ich mir selbst, indem ich diesem Anspruch gerecht zu werden versuchte. Unterbewusst fühlte ich mich schuldig. Ich hatte etwas getan, das man aus Sicht der Gesellschaft in der Regel weder sich noch anderen zugesteht: Jahre lang war ich einer Tätigkeit nachgegangen, die (auch und vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten) nicht gefragt war. Die Freiheit, die ich mir genommen habe, hat mich in einer Gesellschaft, in der als Arbeit nur gilt, womit sich Geld verdienen lässt, mich zunehmend unfrei fühlen lassen.

Ich denke, dass mir diese Erfahrung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen erspart geblieben wäre. Auch meine Fachkollegen hätten sich unter der Voraussetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens meiner These gegenüber wahrscheinlich aufgeschlossener gezeigt. Denn eine Literaturwissenschaft, die Raum zur Selbsterfahrung bietet, wäre in einer Gesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen vermutlich hoch anerkannt. Böte sie doch etwas, das nicht viele Tätigkeiten bieten, das heute noch unter dem (meist abwertend gebrauchten) Schlagwort »Selbstverwirklichung« firmiert und vorwiegend als Teil des Privatlebens gilt: Raum zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Raum zur Entwicklung eigener Gedanken und Raum zur Vertretung eigener Standpunkte.

Als Garant für eine echte Freiheit der Wissenschaft ist die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens aus meiner Sicht unerlässlich. Die Verquickung von wissenschaftlicher Arbeit und Erwerbsarbeit zur Bestreitung des Einkommens, wie sie heute noch überall an den Universitäten stattfindet, ist äußerst problematisch: Nicht nur setzt der Zwang, ihr Einkommen allein aus der wissenschaftlichen Arbeit zu bestreiten, die Wissenschaftler unter Leistungsdruck, er setzt sie auch ideologisch unter Druck, indem er sie hörig macht gegenüber denen, die ihre Forschung für sinnvoll und förderungswürdig erachten.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde es jedem Wissenschaftler erlauben, zu denken und zu sagen, was er im Sinne der Wissenschaft für richtig hält, und somit nur praktisch umsetzen, was in Artikel 5 Absatz 3 unserer Verfassung theoretisch seit langem gilt: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.«

»Die Ordnung der Unterwelt« I und II

Geringfügig verbesserte 1. Auflage 2009
Die-Ordnung_1.pdf
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Geringfügig verbesserte 1. Auflage 2009
Die-Ordnung_2.pdf
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Editorische Notiz

»Die Ordnung der Unterwelt« findet seit der Neuausgabe von »Fluss ohne Ufer« im November 2014 erfreulicherweise immer mehr Leser. Daher habe ich mich entschlossen, hier eine aktualisierte Fassung der 1. Auflage aus dem Jahr 2009 zur Verfügung zu stellen.

Sie unterscheidet sich inhaltlich nicht von der auf dem Server des Institutionellen Repositoriums der Universität Konstanz. Ich habe sie lediglich von kleinen Fehlern bereinigt, die mir nach dem letzten Lektorat noch aufgefallen sind, vor allem was Rechtschreibung und Zeichensetzung betrifft.

Von einer Reduzierung des Umfangs der PDFs habe ich abgesehen, da die Qualität des Druckbildes darunter leidet und insbesondere die abgebildeten Seiten aus dem Original-Manuskript der »Niederschrift des Gustav Anias Horn« kaum noch leserlich wären.

Viel Vergnügen beim Lesen!

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