»Bis heute gilt er als schwierig.« Über Greiners »Der Uferlose«

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Gestern hat Ulrich Greiner unter dem Titel Der Uferlose in der »Zeit« wieder einmal einen Artikel zu Hans Henny Jahnn veröffentlicht. Wie zu erwarten, verrät Greiner uns auch in diesem Artikel nichts Neues über Jahnn und sein Werk, doch es gibt eine bemerkenswerte Neuerung in Greiners Auftreten – und zwar vor allem gegenüber dem eigenen Publikum. Einer der Kommentatoren von Greiners Artikel weist auch gleich auf diese Neuerung hin: »Kompliment Herr Greiner! Feuilletonartikel, in denen sich der Leser und nicht nur der Kritiker erkennen lässt, sind selten, was bedauerlich ist.«

Tatsächlich präsentiert Greiner sich in diesem Artikel zum ersten Mal als der naive Jahnn-Leser, der er eigentlich immer schon war, als der er sich als Kulturredakteur einer der renommiertesten deutschen Wochenzeitungen zuvor jedoch nie zu erkennen gab. In früheren Artikeln trat Greiner, wie sein Kommentator richtig bemerkt, stets als Literaturkritiker auf, der die Stärken und Schwächen eines Werkes wie »Fluss ohne Ufer« offenbar genau zu beurteilen weiß, und prägte damit auch selbst die öffentliche Meinung über Jahnn und sein Werk.

»Man hat mich nicht soweit verstanden, um mich mißzuverstehen«, zitierte Greiner etwa in seinem Artikel Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn eine Aussage Jahnns aus dem Jahr 1947. Wie meine Forschungsergebnisse zu »Fluss ohne Ufer« zeigen, handelt es sich hierbei um eine aus der Sicht des Autors Jahnn bis heute durchaus zutreffende Einschätzung. Greiner aber unterstellte Jahnn lapidar selbstgefällige Übertreibung: »Hochmütig war er zuweilen.« Und schob dem »zuweilen Hochmütigen« kurzerhand selbst die Schuld an der Misere zu: »Er hat, daß man ihn verstehe, nicht allzuviel unternommen, außer eben zu schreiben, was ihn im Innersten aufwühlte, und das war der ›Schöpfungsfehler‹, die Grausamkeit der Natur.«

Dass Greiner sich in seinem neuesten Artikel nun plötzlich mit persönlichen Äußerungen auf das Niveau seines Publikums begibt, kommt nicht von Ungefähr. Denn der vertrauliche Tonfall gegenüber Jahnn-interessierten Lesern erlaubt es Greiner, sich trotz seiner früheren, keineswegs schmeichelhaften Äußerungen über Jahnn und sein Werk glaubwürdig als jemand zu präsentieren, der es mit Jahnn und »Fluss ohne Ufer« immer schon gut gemeint hat, obwohl doch so Viele an den Qualitäten dieses Autors und seiner Werke zweifelten.

Er selbst hat stets zu den Wenigen gehört, die für Jahnn eine Lanze brachen. Seine Zuneigung für diesen bis heute weitgehend unbekannten Autor geht sogar so weit, dass er in der »Zeit«, die doch als unabhängiges Medium bekannt ist, unverhohlen Werbung für zwei Neuerscheinungen des kommerziellen Hoffmann und Campe Verlages macht:

»Nun unternimmt der Verlag einen neuen Versuch [ein größeres Publikum anzuziehen, NH], mit einer prächtigen, drei Bände und 2000 Seiten umfassenden Ausgabe von Fluß ohne Ufer. Sie wird, zusammen mit den erstmals publizierten Briefen Jahnns an seine Frau Ellinor, am 20. Januar im Literaturhaus vorgestellt, und wenn ich hier für Jahnn plädiere, so bin ich aus drei Gründen kein unabhängiger Zeuge: Erstens moderiere ich den Abend im Literaturhaus; zweitens bin ich Präsident jener Freien Akademie der Künste, die von Jahnn 1950 gegründet wurde und der er bis zu seinem Tod vorstand; drittens war ich Gründungsmitglied des Vereins ›Hans Henny Jahnn 100‹, der die Zentenarfeier 1994 in Hamburg ausgerichtet hat.«

Für diejenigen unter den Lesern, denen diese drei Gründe nicht Beglaubigung genug sind für Greiners Hingabe an die Sache »Jahnn«, fügt er vertraulich hinzu: »Ich gehöre also zu der kleinen Jahnn-Gemeinde.« Und gesteht gleich darauf: »Hin und wieder wundere ich mich selbst darüber.« Aber nicht etwa, weil es sich bei Jahnn um einen doch leider bis heute so unpopulären Autor handelt – nein: »Dass ich eines Tages ein Jahnn-Leser würde, war mir, der ich aus Frankfurt am Main stamme, wo Jahnn noch unbekannter ist als an der Elbe, nicht an der Wiege gesungen worden.«

Es war Botho Strauß persönlich, der Greiner vor über 20 Jahren mit seiner Idee, zu »Fluss ohne Ufer« in der »Zeit« einen Lese- und Schreibwettbewerb zu veranstalten, auf Jahnn brachte. Leutselig berichtet Greiner, wie er anlässlich dieses Wettbewerbs anfing, »Fluss ohne Ufer« zu lesen: »Ich hatte damals eine Gastprofessur in Essen, fuhr mit dem Zug vormittags hin und abends zurück. Auf der Hinfahrt bereitete ich das Seminar vor, auf der Heimfahrt las ich Jahnn. Binnen Kurzem versank ich im Fluß ohne Ufer. [...] Meine Fahrt von Essen nach Hamburg dauerte etwa drei Stunden. Jedes Mal freute ich mich auf die Jahnn-Lektüre, stieg in den Speisewagen, bestellte einen Wein und ging tiefer in die immer bizarrer werdende Geschichte.«

Was der ehemalige Feuilletonchef der »Zeit« hier zum Besten gibt, klingt ganz wie aus den Artikeln von Bloggern, die im Internet über ihre persönlichen Leseerfahrungen berichten – volksnah, subjektiv, weit entfernt von gültigen Urteilen über die literarischen Qualitäten eines Werkes. Bei näherem Hinsehen allerdings offenbart sich der manipulative Impetus. Auf raffinierte Weise versucht Greiner, die wenigen Jahnn-Interessierten, die es überhaupt noch gibt, für sich und seine Sichtweise auf das Werk zu vereinnahmen.

Wenn er schreibt: »Es gehört zum Leseerlebnis Jahnn, dass es auf ähnliche Weise nicht mitteilbar ist, wie man es von jenen Träumen kennt, die eben noch klar im Bewusstsein standen und jetzt schon erloschen sind«, dann ist das eine Verallgemeinerung, die offenkundig wenig mit subjektiven Eindrücken und viel mehr damit zu tun hat, dass Greiner wie auch mancher andere angebliche Jahnn-Kenner nicht gewillt ist, Rechenschaft über dieses, sein persönliches »Leseerlebnis Jahnn« abzulegen.

Eine Kleinigkeit, die sich früher bereits in Gestalt von Greiners zum Teil harsch urteilenden Aussagen über Jahnn (s. oben) bemerkbar machte, erfahren wir in diesem neuen Artikel allerdings doch über ihn als Jahnn-Leser: »Immer wieder geschieht es mir, dass ich, wenn ich Jahnn lange nicht gelesen habe, bei erneuter Lektüre stutze und verharre wie ein Pferd, das sich seines Reiters erst entsinnen muss. Und ich gebe zu, dass mich manche der Jahnnschen Obsessionen, etwa in seiner Erzählung Die Nacht aus Blei, abstoßen. Was auch für seine Theaterstücke gilt. Es sind verstörende Überschreitungen.«

Was genau er an Jahnns Texten als »abstoßend« und »verstörend« empfunden hat, erklärt Greiner nicht näher; und warum ihm dies so ergangen sein könnte, darüber gibt er sich keiner Überlegung hin. Vielleicht, weil er auch in diesem Zusammenhang glaubt, sein Leseserlebnis sei derart allgemeingültig, dass man nach Ursachen nicht weiter fragen muss. Oder weil er einfach nicht weiter darüber nachdenken möchte. Für den kompetenten Literaturkritiker, als der er sich bisher stets präsentierte, klingt sein Fazit aus dem »Leseerlebnis Jahnn« jedenfalls sehr bescheiden: »Ich könnte nicht sagen, was ich daraus gelernt habe. Oft weiß man erst sehr viel später (manchmal gar nicht), was gewisse Erfahrungen, und eben auch Leseerfahrungen, bewirkt haben.«

Dergleichen kann vielleicht ein literaturinteressierter Blogger über sich sagen, der einmal auf ein paar Zugfahrten bei ein paar Gläsern Wein »Fluss ohne Ufer« gelesen und sich en passant ein paar Gedanken über das Werk und die Motive des Autors gemacht hat – aber beim besten Willen nicht Ulrich Greiner, der als bekannter Literaturkritiker ein hohes Maß an Verantwortung trägt, sowohl was die Wirksamkeit seiner persönlichen Leseerfahrungen anbelangt als auch vor allem der damit verbundenen mehr oder weniger bewussten Bewertungsprozesse.

Diese Verantwortung aber weist Greiner hier von sich – und damit auch die Verantwortung für seine früheren Äußerungen, mit denen er Jahnn des öfteren als genialen, aber befremdlichen Sonderling der deutschen Literaturgeschichte darstellte. Davon, dass er selbst gemeinsam mit anderen angeblichen Jahnn-Kennern wie Reiner Stach das inzwischen fast völlige Desinteresse des Publikums an diesem zu Lebzeiten bereits geächteten Autor mit verschuldet haben könnte, möchte er bis heute nichts wissen.

Im Gegenteil: Er wünscht sich von dem inzwischen nurmehr kläglichen Rest des an Jahnn interessierten Publikums auch noch die Absolution. Gleich im ersten Absatz seines aktuellen Artikels bemerkt er, beinahe trotzig auf seinem bisherigen Standpunkt beharrend, über Jahnn: »Bis heute gilt er als schwierig. Das war er, und er wollte es auch sein. Er hat es sich und seinen Lesern nie leicht gemacht.«

Ob Jahnn als schwierig gilt, wissen wir nicht. Denn bis heute existiert diesbezüglich keine Meinungsumfrage; und dass Greiner, obwohl er Jahnn nicht persönlich kannte, so sehr betont, Jahnn gelte nicht nur als schwierig, sondern sei es auch gewesen, deutet vor allem auf das persönlich schwierige und ambivalente Verhältnis hin, in dem Greiner zu Jahnn steht und das in all seinen Artikeln über diesen Autor deutlich zum Ausdruck kommt.

Dass Jahnn selbst, wie Greiner behauptet, schwierig sein wollte, ist weder von Jahnn persönlich noch von anderen überliefert und steht auch sonst nirgends geschrieben. – Gewiss, Jahnn war ein unbequemer Autor und hierzu hat er sich auch mehrfach bekannt. Wenn Greiner meint, Jahnn hätte es sich und seinen Lesern nicht leicht gemacht hat, so ist dem also ausnahmsweise einmal zu zustimmen.

Doch, dass Jahnn es sich und seinen Lesern nicht leicht gemacht hat, rechtfertigt wiederum keineswegs, dass ein Leser sein persönlich schwieriges Verhältnis zu Jahnn, ohne auch nur im Geringsten darüber nachzudenken, zur Grundlage literaturkritischer Betrachtungen über dessen Werk macht – auch und gerade dann nicht, wenn dieser Leser Ulrich Greiner heißt, einmal Feuilletonchef der Zeit war und den unbequemen Autor Jahnn inzwischen in seinem Amt als Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg beerbt hat.

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