Ich werde zitiert, also bin ich

Kaum zu glauben: Bereits seit zwei Jahren steht in einer neuen Dissertation über »Fluss ohne Ufer« etwas über meine Studie »Die Ordnung der Unterwelt« – und mir ist es nicht mal aufgefallen!

In meiner Resignation darüber, dass bisher kein einziger Jahnn-Experte von meiner Schreiberei Notiz genommen zu haben scheint und dass ich mit einer Bezugnahme zu meinen Lebzeiten wohl nicht mehr zu rechnen habe, habe ich mir in letzter Zeit nicht mehr die Mühe gemacht, nach neuer Forschungsliteratur zu »Fluss ohne Ufer« Ausschau zu halten – und siehe da!

Da hat doch ein gewisser Sebastian Otto unter dem Titel »Hans Henny Jahnns musikalisches Erzählen in ›Fluss ohne Ufer‹. Polyphonie und Kontrapunkt als Elemente einer dissonanten Utopie« eine 300-seitige Dissertation zu »Fluss ohne Ufer« verfasst und ist als Wissenschaftler tatsächlich nicht darum herum gekommen, sich mit meiner Studie zu befassen, die sechs Jahre vor seiner erschienen ist und ausgesprochen viel zum »musikalischen Erzählen in ›Fluss ohne Ufer‹« zu sagen hat!

Die schlechte Nachricht (die ich freilich hiermit wieder in eine gute zu verwandeln im Begriff bin) aber ist:

Leider nur ein weiterer Forschungsbeitrag ohne Erkenntnisgewinn

1. legt Otto mit seiner Dissertation beredtes Zeugnis davon ab, dass er sich mit dem Inhalt meiner Studie so gut wie nicht befasst hat.

2. erfährt der Jahnn-interessierte Leser, der Ottos 60 € teure Dissertation vom feinen Peter Lang Verlag zu erwerben gedenkt, über musikalisches Erzählen in »Fluss ohne Ufer« ebenfalls so gut wie nichts – jedenfalls nicht mehr als die übliche ermüdende Versammlung theoretischer Texte, die der Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« ohne nachvollziehbaren inhaltlichen Bezug übergestülpt werden, ein paar abstruse Ideen, wie sich laut Otto musikalisches Erzählen in »Fluss ohne Ufer« realisiert (wovon die abstruseste darin besteht, dass Otto Seiten lang über eine von Jahnn intendierte Kapiteleinteilung unter dem Gesichtspunkt musikalischer Intervallproportionen spekuliert) und last but not least: Jede Menge noch ermüdenderes Referat  der Handlung von »Fluss ohne Ufer« bei kaum erkennbarer inhaltlicher Analyse und Auswertung.

Aus meiner Sicht lohnt es sich ebenso wenig, mich über Ottos Forschungs-»Ergebnisse« auszulassen, wie es diesem offenkundig mit meinen Ergebnissen erging. Wer mehr über den Inhalt von Ottos Dissertation erfahren möchte, quäle sich selbst durch hunderte Seiten langweilige Ausführungen zu »Fluss ohne Ufer«. Ich möchte mich hier der (hoffentlich unterhaltsameren) Gegendarstellung widmen und zeigen, dass und wie Otto in seiner Dissertation versucht, meine Forschungsergebnisse als für sein Thema vernachlässigbar abzutun.

Die böse Hucke verurteilt die armen anständigen Jahnn-Forscher

Ohne sich zuvor auch nur mit einem Satz über die These oder den sonstigen Inhalt meiner rund 1000-seitigen Studie zu »Fluss ohne Ufer« ausgelassen zu haben, bemerkt Otto gleich zu Beginn seiner Bezugnahme:

»Die Dissertation Nanna Huckes Die Ordnung der Unterwelt. Zum Verhältnis von Autor, Text und Leser am Beispiel von Hans Henny Jahnns ›Fluss ohne Ufer‹ und den Interpretationen seiner Deuter (2006) hinterlässt zunächst einen problematischen Eindruck.« (Otto, S. 62)

Einmal abgesehen davon, dass Otto hier das Erscheinungsdatum meiner Studie ins Jahr 2006 verlegt (richtig ist 2009), bleibt in diesem Satz zunächst unklar, ob Otto den von meiner Studie »zunächst« gewonnenen »problematischen Eindruck« mit fortschreitender Lektüre womöglich revidieren konnte. Bei Sichtung seiner gesamten Bezugnahmen auf meine Forschungsergebnisse stellt sich allerdings bald heraus, dass Otto sich, wenn überhaupt, nur am Rande damit befasst hat, was klar aus der geringen Menge der von ihm angeführten Textstellen hervorgeht: Es handelt sich um gerade mal 18 Seiten (bei 1002 Seiten Gesamtumfang meiner Studie). Außerdem geht es aus den Aussagen hervor, die Otto, abgeleitet aus diesen paar Seiten, über den Inhalt meiner Studie trifft und die sich mit Verweis auf einschlägige und von ihm offenbar nicht zur Kenntnis genommene Textstellen mühelos widerlegen lassen.

Da Otto das musikalische Erzählen in »Fluss ohne Ufer« als Thema seiner Dissertation gewählt hat, kommt er natürlich auch nicht um die Auseinandersetzung mit der Harmonik herum, mit der Jahnn sich nachweislich beschäftigt hat und auf die er in »Fluss ohne Ufer« vielfach anspielt. Also hat Otto sich bei Sichtung der Forschungsliteratur zum Thema brav mit meinem Kapitel über die Harmonik Hans Kaysers befasst und ist schon dort auf die ersten meiner wissenschaftskritischen Äußerungen gestoßen, die ihm offenbar sofort (und keineswegs »zunächst«, wie er schreibt, s.o.), »problematisch« erschienen. Im zweiten Satz seiner Bezugnahme auf meine Studie fährt er fort: »Dieser [problematische Eindruck, s.o.] äußert sich darin, dass Hucke den ›heutigen Interpreten‹ vorwirft, die ›Vielstimmig- und -deutigkeit‹ literarischer Texte zu überhören, was insbesondere für das Werk Jahnns gelte«. (Otto, S. 62)

Er zitiert dann zum Beleg zwei Sätze aus meiner Studie, die kurz vor Beginn meines Kayser-Kapitels (1.2) stehen: »Die im uneigentlichen – und unbewußten – Sinne mitschwingenden Unter- beziehungsweise Nebentöne ihrer Texte existieren in den Ohren der Deuter nicht, sofern sie deren Selbstbild nicht entsprechen. Ebenso taub erweisen sich die meisten von ihnen für die Nebentöne der gedeuteten Texte, auch und gerade dann, wenn sie von deren Autoren so kunstvoll und bewusst eingesetzt wurden wie von Jahnn.« (Otto, S. 62 sowie Hucke I, S. 25)

Der erste Satz dieses Zitats, auf den Otto übrigens mit keinem Wort eingeht, bezieht sich auf meine umfangreiche kritische Analyse der Sekundärliteratur zu »Fluss ohne Ufer«, mit der ich zeige, dass wissenschaftliche Interpreten oft Schwierigkeiten haben, gewisse nicht intendierte, aber unterstellbare Bedeutungsdimensionen ihrer eigenen nicht-literarischen Texte aufzufassen. Der zweite Satz benennt diese im Kayser’schen Sinne konstatierbare semantische Blind- bzw. Taubheit der Interpreten als Ursache dafür, dass diese oft auch Schwierigkeiten haben, tiefere Dimensionen der Bedeutung anhand der von ihnen gedeuteten literarischen Werke aufzufassen, insbesondere »Fluss ohne Ufer«.

Hucke arbeitet schlampig und unseriös

Es würde zu weit führen, hier näher auf meine These im Kontext der erwähnten harmonikalen Weltanschauung einzugehen. Wer etwas darüber wissen möchte, findet in meiner Studie genug Informationen. Von Otto aber hätte man natürlich erwarten dürfen, dass er zu dieser These in irgendeiner Weise Stellung bezieht, was er aber tunlichst unterlässt. Stattdessen suggeriert er den Lesern seiner Dissertation mit einer unverschämten Ansammlung von Behauptungen über den Inhalt meiner Studie, dass ich als Wissenschaftlerin nicht ernst zu nehmen bin und eine nähere Beschäftigung mit meiner Studie daher auch nicht lohnt. Er fährt fort: »Wer nach dieser pauschalen Aburteilung, in die zweifellos die literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Jahnn eingeschlossen sind, erwartet, dass sich Hucke mit diesen kritisch und profund auseinandersetzen würde, wird enttäuscht. Eine kritische Würdigung der Forschungsliteratur, insbesondere zum Thema Harmonik, findet nicht statt.« (Otto, S. 62)

Er behauptet dann, von der einschlägigen Literatur würde ich lediglich »am Rande« auf »Rüdiger Wagners Studie Hans Henny Jahnn. Der Revolutionär der Umkehr« eingehen (vgl. ebd.), und behauptet außerdem, nachdem er sich noch ein paar Sätze mit einem uninspirierten Referat meines Harmonik-Kapitels abgemüht hat: »Was Hucke übersieht, ist, dass Jürgen Hassel das ›haptische Weltbild‹ Kaysers und dessen Bedeutung für Jahnn und ›Fluss ohne Ufer‹ bereits 35 Jahre vor ihr diskutiert hatte.« (Otto, S. 63)

Natürlich gehe ich in meiner Studie weder nur »am Rande« auf die erwähnten Studien von Wagner und Hassel ein noch habe ich deren Ausführungen zur Harmonik gar »übersehen«. Das ist unmittelbar zu erkennen, wenn man einen Blick ins Kapitel 1.6 wirft, in dem meine Forschungsergebnisse zusammengefasst und die Kapitel angegeben sind, in denen ich mich näher mit den Ergebnissen Wagners und Hassels auseinandersetze. Dort konstatiere ich auch, dass Hassel »Fluss ohne Ufer« »erstmals unter dem Gesichtspunkt musikalischer Strukturen untersuchte. Hassel beschränkt sich jedoch weitgehend auf die Feststellung der Durchdrungenheit von Jahnns musik- und literaturtheoretischen Auffassungen. Er unterläßt es, diese praktisch in Gestalt einer inhaltlichen und formalen Analyse auf Jahnns Texte anzuwenden.« (Hucke I, S. 154)

Wohingegen ich eine solche Analyse der Textstruktur unter dem Gesichtspunkt von Jahnns musik- und literaturtheoretischen Auffassungen (die, wie ich zeige, weitgehend in eins fallen) über die gesamte Breite meiner Studie hinweg vornehme.

Um so frecher ist es, dass Otto an anderer Stelle, an der er sich auf das Unterkapitel 2.3.2 mit dem Titel »Motivstruktur und semantische Polyphonie« (Hucke I, S. 288 f.) bezieht, behauptet: »Hucke bezieht den Begriff der Polyphonie aber nicht strukturell auf den Text, sondern virtuell auf den Rezeptionsakt als eine Vielzahl von Tönen/Stimmen (Wind, Segel, Geräusche, Mannschaft der ›Lais‹ usw.), welche während des Rezeptionsaktes mehrdeutig zusammenklingen.« (Otto, S. 114)

Gerade in diesem Kapitel wie auch in vielen anderen verteilt über meine gesamte Studie geht es explizit um die mehrstimmige bzw. -deutige (und damit nichts anderes als die polyphone) Qualität der Jahnn’schen Sprache. Eine ausführlichere Analyse der Themen- und Motivstruktur von »Fluss ohne Ufer« unter dem Gesichtspunkt von Polyphonie und Kontrapunktik im literarischen ebenso wie im musikalischen Sinne ist bisher niemals vorgenommen worden – und Otto möchte meine Forschungsergebnisse hier auf eine oberflächliche Betrachtung des Rezeptionsprozesses reduzieren!

Gönnerhaft bemerkt er: »Zur Motivstruktur stellt Hucke einige allgemeine Überlegungen zum Prinzip der Vorwegnahme und zum Leitmotiv an. Die wenigen konkreten Beispiele, welche Hucke für das gestaltende Prinzip der Vorwegnahme anbringt, sind zwar als erste Hinweise auf die vielfältigen Motivverzahnungen in der ›Niederschrift‹ durchaus hilfreich, aber natürlich nicht ausreichend, um die Motivstruktur der ›Niederschrift‹ zu erfassen.« (Otto, S. 114)

Aber natürlich nicht, Herr großartigster Strukturanalyst aller Zeiten! – Verzeihung, dass ich an dieser Stelle polemisch werde ...

Mission accomplished

... damit hat dann sowohl Sebastian Otto seine Mission erfüllt, als Verfasser einer Dissertation zum »musikalischen Erzählen in ›Fluss ohne Ufer‹« etwas über »Die Ordnung der Unterwelt« schreiben zu müssen, als auch ich, die ich es mir nicht nehmen lasse, auch noch die letzte Unwahrheit zu zitieren, die Otto über mich und meine Studie zu verbreiten versucht, indem er abschließend in Bezug auf seine Dissertation noch einmal hervorhebt: »Besonderen Wert wird in TEIL II darauf gelegt, Themen und Motive nicht nur als musikalische zu versammeln, die, wie bei Hucke, während des Rezeptionsaktes ›klingen‹ sollen, sondern, entsprechend der in TEIL I formulierten These und unter Berücksichtigung des Exkurses zur Analogie, auf ihre polyphone, kontrapunktische Anordung zu verweisen.« (Otto, S. 141)

In meinen Ohren klingt das alles ziemlich widerlich und ist nichts als ein weiterer trauriger Beleg für die Unfähigkeit vieler Literaturwissenschaftler und *innen, sich literarischen Werken und insbesondere »Fluss ohne Ufer« in angemessener Weise zu nähern!

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